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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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die erste, für alle kommenden Zeiten höchst wertvolle Erfahrung.
    Am Abend der Entscheidung zwischen Schröder und mir erlebte ich zu Hause noch eine mein Herz erwärmende Szene. Das Fernsehen hatte den Vorgang übertragen. Nach dem Auszählen der Stimmzettel hatte Kiesinger die beiden Kontrahenten rechts und links von sich postiert und dann zur Bekanntgabe des Ergebnisses, beinahe wie ein Ringrichter beim Boxkampf, Schröders Arm hochgehoben. Als ich nach Hause kam und fröhlich von meiner Begegnung mit Schröder zu erzählen begann, begehrte unser jüngster, damals achtjähriger Sohn Fritz auf: Der Name Schröder dürfe nicht mehr genannt werden, er habe den Vater geschlagen. Fritz war nicht zu besänftigen. Er wußte nicht, worum es gegangen war, aber zur Solidarität mit dem Vater war er entschlossen.
    Drei Jahre später kam es noch einmal zu einer persönlichen Kampfabstimmung, an der Schröder und ich beteiligt waren und bei der ich doppelt so viele Stimmen erhielt wie er. Es war die Wahl zum Fraktionsvorsitzenden nach Barzels Rücktritt. Zwar waren wir alle beide, Schröder und ich, vom überlegenen Sieger
Carstens geschlagen worden. Aber weil nun diesmal Schröder hinter mir lag, empfand Fritz Genugtuung. Er erklärte, jetzt dürfte zu Hause wieder über Schröder gesprochen werden.
    Es heißt immer wieder, daß das Politikerdasein die Familienbande lockere. Jeder kennt und versteht solche Gefahren. Es gibt aber eben auch ganz andere Erfahrungen. Solange ich in der Wirtschaft tätig war, gab es zu Hause kaum je ein Gespräch darüber, was an meinem Beruf denn interessant sei. Als es dann in die Politik ging, bekamen die Kinder eine anschauliche Vorstellung von dem, was der Vater tagsüber trieb, und damit begann eine ständig mitempfindende Beteiligung an seinem Weg. In der Familie das Auf und Ab der Arbeit mitzuerleben, die die Elterngeneration erfüllte, hat uns eng zusammengeführt und zusammengehalten.

Wahl in den Bundestag; die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel
    Am 28. September 1969 wurde der sechste Deutsche Bundestag gewählt. Mit ihm veränderte sich die Geschichte der alten Bundesrepublik nachhaltig.
    Rein rechnerisch hatte das Wahlergebnis drei verschiedene Regierungskoalitionen möglich gemacht: Neben einer erneuerten großen Koalition je ein Bündnis der FDP mit einer der beiden großen Parteien. Die Lage wurde durch die Entschlossenheit von Willy Brandt entschieden, der von vornherein eindeutig auf eine sozialliberale Koalition zusteuerte - gegen den Rat von Wehner, Schmidt und anderen führenden Leuten seiner Partei.
    Brandt ging es um seine Ostpolitik. Für dieses Ziel hatte er aus seiner Zeit als Regierender Bürgermeister von Berlin-West gute Erinnerungen an die FDP und schlechte an die CDU. Aus
der großen Koalition steckten ihm noch die bremsenden Erfahrungen mit der Union und das äußerst dürftige persönliche Verhältnis zu Kiesinger in den Knochen. Er empfand es als unzumutbar für sich selbst, eine solche Zusammenarbeit fortzusetzen. Schließlich hatte die Wahl Heinemanns zum Bundespräsidenten Brandts Zuneigung und Respekt für den FDP-Vorsitzenden Scheel nachhaltig gestärkt.
    Für einen Erfolg der angestrebten Koalition gab es in seiner wie in Scheels Partei ost- und wirtschaftspolitisch unsichere Kantonisten. Dennoch bildete Brandt ohne Zögern das neue Bündnis, zunächst mit zwölf Stimmen Vorsprung vor der opponierenden Union. Seine ostpolitische Linie wollte er aber »notfalls auch mit einer Stimme Mehrheit« durchbringen, wie Egon Bahr ihn zitierte.
    Mit der Neuwahl waren bisher führende und prägende Persönlichkeiten der Nachkriegszeit aus dem Bundestag ausgeschieden, unter ihnen Heinrich Krone, Eugen Gerstenmaier, Adolf Arndt und das erste weibliche Mitglied einer Bundesregierung, Elisabeth Schwarzhaupt. Rund einhundertzwanzig Abgeordnete wurden erstmals in das Parlament gewählt. Sie brachten nur eine mäßige Verjüngungskur mit sich. Der Prominenteste unter ihnen war der damals achtundsechzigjährige Professor Walter Hallstein. Zusammen mit ihm kam eine erlesene Gruppe fachlich und politisch herausragender Professoren: Paul Mikat, Horst Ehmke und Ralf Dahrendorf. Zu den Novizen zählte ferner Klaus von Dohnanyi, der alsbald das Niveau im Bundestag bereicherte und zu einem besonders wertvollen Gesprächspartner wurde. Auch ich war gewählt und nun schon beinah fünfzig Jahre alt, als für mich die Politik in der Form eines Berufs begann.
    Gemäß seiner Zusage

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