Vier Zeiten - Erinnerungen
die Stimme für den demokratischen Gegenkandidaten abzugeben, für mich? Wehner hat mir auf meinen Brief zu diesem grotesken Vorgang nie geantwortet. So war er: Seine Priorität war die jeweilige Sache, aber das hieß hier weniger die politische Substanz als die Macht. Um dieser Sache willen war ihm jedes Mittel recht, ohne Rücksicht darauf, was es für die betroffenen Menschen bedeutete. Das bekam ich zu spüren, als es ihm darum ging, die Kanzlerwahl von Helmut Schmidt zu sichern.
Im Bundestag wirkte er wie ein ständig zum Ausbruch bereites Gewitter. Er, der dünnhäutige, um seiner schwer durchschaubaren Vergangenheit willen lebenslang verletzliche Mann, wartete förmlich auf boshafte Zwischenrufer, um sie mit seinen Blitzen zu zerschmettern. Man brauchte ihn, wenn er im Plenarsaal redete, nur intensiv und unschuldig genug anzusehen, und schon wurde man mit seinem Wortgehämmer festgenagelt. Er war nicht der beste Debattenredner des Parlaments, aber keiner elektrisierte das Haus so wie er. Jahrelang war er der wichtigste Abgeordnete im Deutschen Bundestag, dieser Mann voller feinster Empfindsamkeit und stählerner Härte, eine Persönlichkeit ohnegleichen und ganz gewiß kein Landesverräter.
Die Reise der Delegation nach Moskau zeigte uns, daß es die Sowjets mit der Entspannung ernst meinten, zugleich aber, wie ungeheuer schwer es noch immer war, zueinander zu finden. Ich erinnere mich an unseren Gang durch den Piskarewskoje-Friedhof in Leningrad. Dort liegen die Gräber von sechshundertfünfzigtausend
Menschen, zumeist Zivilisten, die in der beinahe dreijährigen Belagerung der Stadt während des Krieges ums Leben gekommen waren, durch Waffeneinwirkung, Kälte und Hunger. Die Inschrift des Mahnmals lautete: »Wisse ein jeder - niemand ist vergessen, und nichts ist vergessen.« So war es. Mit den schärfsten Worten beschrieb uns der Leiter der Gedenkstätte die Schlachten um die Stadt. Er zeigte uns die Stellungen, aus denen die »Hunnen« über die Verteidiger hergefallen seien.
Abends gab es ein Festbankett bei dem Leningrader Parteisekretär. Seine Rede hatte denselben Tonfall. Diesmal traf mich die unter uns fünf rotierende Aufgabe, zu erwidern. Es war für mich unwiderstehlich, freimütig zu sagen, auch ich sei als junger Infanterist einer jener »Hunnen« gewesen, die auf der anderen Seite gekämpft hätten. Viele der Ortsnamen seien mir noch im Gedächtnis. Wir seien uns der Leiden an allen Fronten, vor allem aber in der Stadt voll bewußt gewesen. Und nun seien wir hier, um unseren Teil beizutragen, daß sich unter unseren Nachkommen nie wiederholen dürfe, was wir selbst erlebt hätten. Unser Botschafter war über meine Bekenntnisse erschrocken. Aber nach anfänglichem Schweigen zeigten die Russen eine der wahren Qualitäten ihres Wesens. Es kam zu einer ganz offenen und beinahe warmen menschlichen Atmosphäre.
Als ich den für Kirchenfragen zuständigen sowjetischen Minister besuchte, stellten wir fest, daß wir uns schon einmal beinahe begegnet wären. Wir waren im selben Zeitraum am selben Frontabschnitt beim Stellungskrieg einander gegenüber eingesetzt.
Einmal entfernte ich mich heimlich vom Delegationsprogramm. Mein russischsprechender ausgezeichneter Mitarbeiter Jürgen Heidborn hatte die Moskauer Adresse von Andrej Sacharow ermittelt. Ich besuchte ihn und fand ihn, in seiner Freiheit eingeschränkt, auf engstem Raum in einer kleinen Wohnung bei Verwandten. Er war voller Verbitterung und Zuversicht zugleich. Ich hatte natürlich Sorge, auf meiner unerlaubten Tour
erwischt zu werden. Aber offenbar blieb mein Besuch unentdeckt. Denn am nächsten Tag erzählte mir der für Propaganda zuständige Minister Samjatin, die westlichen Gerüchte über Sacharows eingeschränkte Lebensumstände seien erlogen, er lebe frei und außerhalb Moskaus in einer schönen eigenen Villa.
Als ich ein anderes Mal die Delegation während einer Opernaufführung vorzeitig verlassen und ein zauberhaftes Marionettentheater aufgesucht hatte, dessen Spieler im Ruf von Dissidenten standen, wurde ich dort aufgespürt und buchstäblich mit Blaulicht in die Oper zurückgebracht.
In unserem Moskauer Staatsgästehaus nahm man sich auch unserer Wäsche an. Sträflicherweise hatte ich meine schönsten Manschettenknöpfe in einem Hemd stecken lassen; sie fehlten, als es zurückkam. Die Aufwartung bat ich nachzusehen, ohne Erfolg. Dann ersuchte ich den Geschäftsführer des Hauses nachzuforschen - wiederum ergebnislos. Nun
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