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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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erfahrungsgemäß eine zu kurze Zeit für einen völlig neuen, von außen kommenden Kandidaten, zumal, wie schon erwähnt, die bundespolitischen Rahmenbedingungen deutlich günstiger für die sozialliberale Berliner Koalition waren als für die Union. Auch hatte ich gewiß schon viele Wahlversammlungen mitgemacht, aber doch noch nie an der Spitze eines ganzen Landesverbandes als Kandidat für das Regierungsamt.
    Kurzum, die Hürde war hoch, aber dann doch nicht zu hoch. Am Ende war es gewiß nicht nur der Verstand, sondern vor allem das Herz, das voranflog. Nach einer überaus freundschaftlichen Beratung mit Peter Lorenz sagte ich zu, und ich habe es nie bereut.

Zwei Wahlkämpfe in der geteilten Stadt
    Nun stand ich einem Sturm von neuen Anforderungen gegenüber. Was hätte mir Gesünderes widerfahren können? Gedankliche Arbeit an langfristigen Programmen mußte jetzt dem täglichen Handeln weichen. Den Konsens zu suchen war gewiß nicht falsch. Zuerst aber mußte gekämpft werden. So trat ich eine harte und zugleich prägende Lehrzeit an. Da ich neben einigen kirchlichen Aufgaben mittlerweile die Politik ganz und gar zu meinem Beruf gemacht hatte, war diese Lehre für mich so etwas wie eine Befreiung aus der Theorie.
    Die Lage in der Stadt war schwierig. Durch den Grundlagenvertrag mit der DDR und das Viermächteabkommen für Berlin waren nach außen die Bindungen und Verkehrswege sicherer und berechenbarer geworden. Die Schlußakte von Helsinki wirkte sich wohltuend aus. Schrittweise verlagerte Westberlin
sein Lebensgefühl von der Frontstadtstimmung zu dem Wunsch, etwas vom Leben zu haben. Das war nur allzu verständlich, förderte aber zugleich eine Prädisposition zum Provinzialismus und Mittelmaß, begleitet vom nimmermüden Ruf nach Subventionen, übertüncht oder auch überstrahlt von der Königin Nofretete im Ägyptischen Museum, von Karajan in der Philharmonie und Peter Stein in der alten Schaubühne.
    Die Sozialdemokraten als Dauerregenten waren nicht in bester Verfassung. Klaus Schütz hatte 1977 nach zehnjähriger Amtszeit als Regierender Bürgermeister zurücktreten müssen. Für seine Nachfolge kam es zu einer parteiinternen Kampfabstimmung zwischen Dietrich Stobbe und Hans-Jürgen Wischnewski. Stobbe siegte mit siebzehn gegen fünfzehn Stimmen. Nach seinen eigenen Worten stand er nun an der Spitze einer zerklüfteten Großstadtpartei. Stobbe wußte es und litt selbst darunter, daß sie sich dank einer blühenden Verfilzung und Parteibuchwirtschaft Stück für Stück den Staat zur Beute gemacht hatte. Das ist keine zwingende, aber die übliche Hauptgefahr, wenn die Wähler allzulange keine Machtwechsel mehr zustandebringen.
    Stobbe wählte die Kommunalpolitik zum Schwerpunkt seiner Arbeit. »Hinwendung zur Stadtpolitik« hieß sein Programm. Als mein Umzug von Bonn an die Spitze der Berliner Opposition bekannt wurde, nannte Stobbe mich einen Gewinn für die Stadt. Er begrüßte mich sehr freundlich, nannte mich, was immer das heißen mochte, eine »Lichtgestalt«, die sich die Hände im innenpolitischen Sumpf der Großstadt noch nicht beschmutzt habe.
    Der Wahlkampf ließ natürlich nicht auf sich warten. Er machte mir vor allem deshalb Freude, weil die oft vor Begeisterung dröhnenden Versammlungen und Reden an die Adresse von lauter längst Bekehrten auf ein Minimum beschränkt blieben und durch ungezählte Straßendebatten, Wohnungsbesuche und Fachveranstaltungen ersetzt wurden. Das Beste war stets
die vollkommen direkte, herzlich freche Unbefangenheit der Berliner.
    Trotzdem war nicht allzuviel politische Bewegung unter den Bürgern. Über die verschlissene SPD zu schimpfen war allgemein üblich, aber nichts Neues. Man hatte sich daran gewöhnt, ohne auf Konsequenzen zu drängen. Mit dem Ansehen der CDU stand es auch nicht gerade zum besten. Manche ihrer bildungspolitischen Ziele wurden begrüßt. Im übrigen galt sie als ziemlich reaktionär. Sie hatte gerade auch in Berlin der Ostpolitik von Willy Brandt widerstanden, ohne breites Echo bei der Bevölkerung zu finden. Der besonders bekannte, in der Partei sehr einflußreiche und weit rechts stehende Präsident des Abgeordnetenhauses, Heinrich Lummer, hatte meine Ankunft in Berlin genutzt, um öffentlich mit dem Gedanken einer ihm willkommenen vierten Partei zu spielen. Dadurch war ich sofort zu meiner ersten und schärfsten parteiinternen Intervention genötigt. Ich hielt jeden solchen Gedanken für politisch fatal und im Sinne des Wahlzieles

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