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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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der politischen Verbindung wurde im Laufe der Zeit eine wirkliche menschliche Bindung.
    Mit der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt wurde die Atmosphäre im Parlament bissiger. Durch seine scharfsinnigen und scharfzüngigen Reden trug er dazu bei, den Bundestag mindestens temporär zum wahren Forum der Nation zu machen. Dabei zeigte sich sein starkes und dennoch gezügeltes Temperament. Wie die meisten von uns, so schoß auch er dann und wann
mit seinen Argumenten über das Ziel hinaus, so auch, als er einmal erklärte, die SPD stehe der Bergpredigt erkennbar näher als die Union - wo wir uns doch damit alle miteinander ziemlich gleich schwertun. An den politisch-ethischen Grundfragen nahm er aber in Wahrheit einen starken, nicht selten parteiübergreifenden Anteil.
    Wenn er über Moral, Pflicht und Verantwortung sprach, pflegte er vor dem Ruf nach geistiger Führung durch die Politik zu warnen. Dennoch nahm er sie wahr -wie es sich gehört, im klaren Bewußtsein des Unterschiedes zwischen bevormundenden Predigten des Politikers, was ihm nicht zusteht, und der Notwendigkeit, grundlegende Überzeugungen zu haben, auszusprechen und zu praktizieren. Er war in der Lage, professionellen Denkern Nachhilfestunden des Praktikers zu geben - so, wenn er, im Popperschen Bewußtsein eigener Fehlbarkeit, einen amerikanischen Pragmatismus in den Dienst der Ethik von Immanuel Kant und Hans Jonas stellte. Ihn zeichnete seine exzeptionelle binnen- und weltwirtschaftliche Kompetenz ebenso aus wie sein außenpolitischer Sachverstand. Beides gründete bei seinem strategischen Denken auf der Sorgfalt im Detail, auf dem Respekt vor kleinen Dingen beim Anmarsch zu großen Zielen. Im Umgang mit kundigen und verantwortungsbewußten Mitarbeitern war er aufmerksamer und geduldiger als beim unvermeidlichen Small talk in der sogenannten großen Welt -warum auch nicht? Es war nicht so leicht, den persönlichen Kontakt zu ihm zu gewinnen. Um so menschlich lohnender war es, als es gelang.
    Bei den zentralen Redeschlachten über den Kanzlerhaushalt war Franz Josef Strauß sein Lieblingsgegner. Dann bemühte sich Schmidt, »den ersten Redner der Opposition«, wie er ihn ohne Namensnennung bezeichnete, nämlich Strauß, gegen »den zweiten Redner der Opposition« auszuspielen, nämlich gegen mich. Strauß hatte damals die »Sonthofen«-Strategie entwickelt, mit der er von der Unionsfraktion eine totale Opposition verlangte;
sie solle keine hilfreichen Alternativvorschläge machen, sondern die Regierung in den Staatsbankrott treiben. Das hatte natürlich zu heftigem Widerspruch geführt, auch in der CDU.
    Strauß war damals in allen Richtungen auf dem Kriegspfad. Nachdem Kohl bei der Bundestagswahl 1976 zwar nicht gewonnen, aber hervorragend abgeschnitten hatte, ließ Strauß auf einer Tagung in Wildbad Kreuth die Fraktionsgemeinschaft zwischen CDU und CSU im Bundestag aufkündigen. Der Beschluß hatte freilich keine lange Lebensdauer, weil zu viele CSU-Wahlkreisabgeordnete in legitimer Selbstsucht erkannten, daß sie zu Hause das Nachsehen haben würden, wenn es zu dem von uns nun angekündigten »Einmarsch« der CDU in den Freistaat Bayern kommen würde.
    Danach folgte eine noch schwierigere Phase. Strauß strebte zur Kanzlerkandidatur für die Wahl 1980, die er auch erreichte. Das war natürlich legitim. Doch nun sollte mit der Keule »Freiheit oder Sozialismus« gefochten werden. Das war an der Grenze des Erträglichen. Denn bei dem Spruch sollte sich jeder aussuchen können: War der real existierende Sozialismus in der DDR gemeint, dem es mit dem Verlangen nach Freiheit zu begegnen galt? Oder sollte im Ernst dem demokratischen Sozialismus das Bekenntnis zur Freiheit abgestritten werden? Das war grotesk und schlechthin unglaubwürdig, auch dann, wenn man der SPD die Frage nicht ersparen durfte, ob ihre staatliche Politik des »betreuten« Menschen ihm nicht die Kraft zur Selbständigkeit und damit zum vollen Gebrauch seiner Freiheit beeinträchtige. Strauß nannte sich damals den deutschen Thatcher.
    Zusammen mit anderen hatte ich mich vergeblich für eine Kanzlerkandidatur des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht eingesetzt, den ich schon in der Grundsatzkommission hochschätzen und dessen Mut ich bei den schwierigen Ratifizierungsdebatten der Polen-Verträge im Bundesrat 1976 achten gelernt hatte. Es wurde ein unerfreulicher Wahlkampf. Wir hatten es Schmidt relativ leicht gemacht, ein Trost für ihn,
weil mittlerweile seine eigene

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