Viereinhalb Wochen
ganze Thema zu verschweigen, so zu tun, als wäre Julius nicht da – er ist für immer in unseren Herzen und ist unser geliebter erster Sohn.
Ganz liebe Grüße, Eure drei Bohgs.
Langsam versuchten wir, ein klein bisschen Alltag zu schaffen, unseren neuen Lebensabschnitt anzugehen: Wir bastelten eine Karte aus dem Foto von uns drei Bohgs und liefen damit und mit ein paar Sonnenblumen, Schokoladetafeln und Weinflaschen die Runde der Menschen ab, die uns im Krankenhaus geholfen hatten – wir gingen zu den Schwestern, Hebammen und Ärzten.
Die diensthabende Schwester auf der gynäkologischen Station, die wir noch nie zuvor gesehen hatten, fragte uns: »Na, Sie sind doch die Eltern vom kleinen Julius, oder?«
»Woher wissen Sie denn das?«, entgegnete ich neugierig.
»Nun ja«, sagte die freundlich lächelnd, »Sie sind hier Gesprächsthema. Alle sind tief berührt von Ihrer außergewöhnlichen Geschichte …«
Mir liefen die Tränen, ich ließ sie laufen. Ich war so stolz auf meinen Sohn.
Tibor ging wieder zurück ins Büro. Mittags trafen wir uns fast jeden Tag. Wir spazierten dann in seiner Pause zum Ludwigkirchplatz, wie wir das auch schon während der Schwangerschaft immer wieder gemacht hatten, und setzten uns auf die Bank direkt neben dem Kinderspielplatz. Es tat uns gut, zusammen zu sein, in der Sonne zu sitzen und das Kinderlachen zu hören.
Der Sommer verlor seine Kraft, entfaltete aber noch einmal seine ganze Schönheit. Wir bewunderten das berühmte Dahlienfeuer im Britzer Garten, verloren uns in der Pracht der abertausend Blüten, bis uns eine Familie mit vier Kindern entgegenkam. Tibor und ich dachten uns in diesem Moment haargenau dasselbe, einer von uns beiden sprach es aus: »Wenn wir einmal mit unseren drei Kindern hier gehen und so einer Familie begegnen werden – dann wird uns das immer noch weh tun, weil Julius fehlt. Weil wir eigentlich mit vier Kindern gehen sollten.«
Kathrin, Lillys Sternenmama, die uns schon den Tipp mit dem Kennenlernen im Café gegeben hatte, gab mir den wertvollen Rat, mich doch für eine Mutterkur zu bewerben, denn die stehe mir zu. Ich behielt den Gedanken im Hinterkopf – doch zu diesem Zeitpunkt wollte ich keinen Tag, schon gar nicht drei ganze Wochen lang weg von Tibor, weg von Berlin, weg vom Grab meines Sohnes. Ich fragte Kathrin noch, wo genau sie gewesen war – und konnte nicht anders als loslachen, als sie sagte: »Oberstdorf, Allgäu …«
Ich traute meinen Ohren nicht – genau an dem Ort, an dem Tibor und ich 2006 drei wundervolle Flitterwochen verbracht hatten. Diese beeindruckende Berglandschaft, der klare Freibergsee, die weiten Wiesen, die glücklichen Kühe – Tibor und ich hatten schon oft davon gesprochen, wieder einmal ins Allgäu zu fahren. Sollte jetzt der Zeitpunkt gekommen sein?
Da ich mir bereits denken konnte, dass der Antrag einige Zeit dauern würde, bereitete ich nach einigem Zögern tatsächlich die Papiere vor. Das war mühsam für mich, eine echte Herausforderung, denn ich musste dazu mit vielen fremden Menschen reden, musste in ein Büro des Müttergenesungswerkes gehen – obwohl ich noch sehr kontaktscheu war und mit niemand fremdem reden wollte.
Damals dachte ich, dass ich langsam wieder die Kraft dazu hätte, Tagebuch zu schreiben – aber dem war noch nicht so:
29 . September 2011
Julius ist im Himmel. Am 23 . August war es so weit. Ich habe es seit langem vor mir her geschoben, hier wieder etwas zu schreiben. Alle unsere Erinnerungen, alle Tränen, alle Trauer werden im Juliusbuch niedergeschrieben. Damit fange ich an, nächste Woche oder so. Heute sind 23 Grad, strahlender Sonnenschein – es soll die ganzen Tage so bleiben.
Ich bin im Café finovo, Tibor kommt mit dem Rad direkt von der Arbeit aus her. Bastian war schon da, als ich um 4 kam – so eine Gebetserhörung. Allein hätte ich sicher wieder einen Absturz gekriegt.
Ich hab mich wohl verausgabt im Wochenbett – 5 , 5 Wochen sind es nun. Hier rein will ich grad nichts davon schreiben. Nur ins Juliusbuch.
Das »Juliusbuch«, wie ich es nannte, war ein Notizbuch und ein Fotoalbum zugleich, in dem ich sowohl alle Fotos als auch meine Gedanken sammeln und für unsere Familie und für später einmal festhalten wollte.
Erst im Oktober konnte ich wieder richtig Tagebuch schreiben. Es waren die kleinen Dinge, über die ich täglich berichtete:
8 . 10 . 2011
Das Skaten habe ich dieses Jahr wohl zum Maximum ausgereizt – ab morgen
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