Viereinhalb Wochen
als den Sarg an den blauen Bändern in das Erdloch hinabzulassen. In diesen Momenten war nichts in mir außer Schmerz und einer Verwunderung, wie tief dieses schwarze Loch war, in das unser Sohn hineinmusste.
Wir traten zur Seite, nun konnte jeder an das Grab herantreten. Alle hatten, wie von uns erwünscht, bunte Blumensträuße mitgebracht und Sonnenblumen. Manch einer legte etwas mit ins Grab, einen Brief an Julius, eine andere Kleinigkeit, die ihm oder ihr am Herzen lag.
Tibors Schwester Dascha hatte wundervolle Zeilen an ihren kleinen Neffen geschrieben, wovon sie uns eine Kopie gab. Wir waren so dankbar und überwältigt, wie unser kleiner Klopfer die Herzen berührte:
− Jeder der mir begegnet, ist ein Teil von mir −
Lieber Julius Felix,
danke, dass ich Dir begegnen durfte.
Wenn unser Zusammentreffen auch viel zu kurz war und Du Dich viel zu schnell verabschiedet hast, bevor wir uns besser kennenlernen konnten. Aber Deine Eltern haben mir viel von Dir erzählt, wie Du Dich mit ihnen gefreut hast, was Du mit ihnen erlebt hast, wo Du mit ihnen überall gewesen bist und wie Du Dich hast eincremen lassen! Deine Eltern haben mir so viele schöne Erinnerungen an Dich geschenkt und mir so wunderschöne Fotos von Dir gezeigt – so konnte ich Dich doch ein wenig besser kennenlernen und ein bisschen an Deinem Leben teilnehmen.
Ich habe Dir zwei Fotos von mir mitgegeben, damit Du siehst, wie ich aussehe. Molly ist auch mit auf dem Foto!
Ich werde Dich immer an meinem Leben teilnehmen lassen, so dass Du mich auch noch ein wenig kennenlernen kannst.
Das würde mich sehr glücklich machen.
Danke, Julius Felix, dass ich Dir begegnen durfte.
Du bist jetzt ein Teil von mir. Ich habe Dich für immer in mein Herz geschlossen.
Ich umarme Dich, Deine Tante Dascha.
Danach begannen die dunkelsten Minuten unseres Lebens, als wir anfingen, den Erdhaufen neben dem Grab in das Loch zu schaufeln. »Machen Sie das ganz sachte«, hatte die Bestatterin noch gesagt, bei unserem ersten Treffen, »das muss man sehr vorsichtig machen, damit nicht dieses hässliche Geräusch kommt, wenn die Erde auf den Sarg trifft …« Doch dieses Geräusch kam trotzdem, und es war sehr hässlich. Es ließ eine gewaltige Wut in mir hochsteigen, eine Wut auf das Leben, den Tod, den Gott, an den ich glaubte. »Das ist so surreal«, dachte ich, »das kann doch nicht wahr sein, dass ich hier mein Kind vergrabe. Unser Wunschkind. Unseren geliebten ersten Sohn.«
Es erschien mir wie eine Ewigkeit. Mir wurden die Arme schwer, aber Tibor und ich hatten uns gesagt, dass wir spontan entscheiden wollten, ob wir tatsächlich alles selbst machen würden. Und diese Tortur gehörte dazu. Wir wollten es selbst machen.
Ich begann zu murmeln:
»Erde zu Erde …«
Es dauerte über fünfzehn Minuten, bis alle Erde auf dem kleinen bunten Kästchen ruhte. In dieser Zeit starb jeder der Anwesenden ein Stück mit ihm, doch alle hatten den Mut und die Kraft, es gemeinsam mit uns auszuhalten. Wir waren so dankbar, dass sie da waren. Mit uns weinten. Die letzte Erde trugen wir mit den bloßen Händen auf das Grab, dann klopften wir das Erdreich zu einer halbwegs ebenen Fläche. Darauf kamen all die Blumen, die unsere Gäste mitgebracht hatten. Ein Blumenmeer, viele Sonnenblumen, ein Windrad. Selbst das Wetter passte, es war grau und stürmisch, auch der Himmel schien trist und wütend.
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Puzzleteil
L angsam sammelten sich alle Trauergäste im oberen Stock des Cafés. Wir aßen Suppe, es gab hausgemachten Kuchen. Wir alle waren todtraurig, jeder saß wortlos da und hing seinen Gedanken nach. Irgendwann wurde das Schweigen gebrochen, und die Atmosphäre lockerte sich auf. Natürlich sprachen wir in den nächsten paar Stunden vor allem über Julius. Wir erzählten davon, was wir so gerne mit ihm zusammen gemacht hatten, wir berichteten unseren Gästen von unseren gemeinsamen Ausflügen. Wir sprachen über das Positive, das Schöne, das wir mit Julius hatten erleben dürfen. Wir erzählten allen, dass der Kleine ein gutes Leben gehabt und kein Leid gekannt hatte. Sie staunten über die Geschichten vom Riesenradfahren, von der Dampferfahrt auf der Spree und darüber, wie ich so oft zur Musik von Xavier Naidoo oder Keimzeit mit Julius im Bauch getanzt hatte. Sie staunten, weil sie wohl gedacht hatten, wir wären die Zeit mit Julius immer in Trauer gewesen – doch das war nicht so: Diese Zeit war nicht nur die emotionalste und – ja klar, traurigste
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