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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Constanze Bohg
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Zeit unseres Lebens, es war auch die erfüllteste, glücklichste Zeit für unsere kleine Familie gewesen.
    Nach einer guten Weile mussten die ersten aufbrechen, da sie lange Autofahrten vor sich hatten. Auch wir waren ausgelaugt und wollten zurück in unsere eigenen vier Wände. Ich fror im Taxi vom Friedhof nach Hause, und dann kam im Autoradio auch noch Herbert Grönemeyer, ausgerechnet mit seinem Song »Halt mich«:
    Halt mich – nur ein bisschen
    Bis ich schlafen kann
    Fühl’ mich bei Dir geborgen
    Setz’ mein Herz auf Dich
    Will jeden Moment genießen
    Dauer ewiglich …
    Als ich die mir so gut bekannten Zeilen über Liebe und Frieden und vor allem über diesen Wunsch nach Dauer hörte, brach meine in den letzten Stunden sorgfältig geordnete Fassade in sich zusammen, ich musste mein Gesicht auf der Stelle vergraben, dem Schluchzen in Tibors Umarmung seinen Weg lassen.
    »Machen Sie bitte das Radio aus! Machen Sie das Radio aus!«
    Tibor äußerte seine Bitte sehr bestimmt, und der überraschte Taxifahrer reagierte sofort, immerhin wusste er, dass wir von einem Friedhof kamen. Es sollte noch den ganzen Weg bis Neukölln dauern, bis ich mich wieder halbwegs im Griff hatte.
    Nun waren wir zwar wieder zu Hause, somit war aber auch alle Ablenkung, alle Aufmunterung mit einem Schlag wie weggeblasen. Wir kamen hoch in unsere Wohnung und standen buchstäblich mit leeren Händen da: Nun hatte ich nicht nur kein Kind im Bauch, jetzt hatten wir nicht einmal mehr sein Bettchen oder seine Decke, und wir hatten keine Aussicht darauf, ihn noch einmal zu sehen.
    Irgendwie schaffte ich es ins Bett, ich wollte nichts mehr hören und sehen. Das war der widerlichste Tag in meinem Leben gewesen. Nur der Tag der Diagnose war ähnlich katastrophal, doch der Tag der Beerdigung war letztlich noch schlimmer: An dem war klar, dass es tatsächlich keine Hoffnung mehr gab für Julius, für uns – zumindest nicht in dieser Welt.
    Uns blieb nichts als Erinnerungen, Fotos und ein Geschenk: ein weißgrüner Herrnhuter Stern als Lampe, den Susel mitgebracht hatte und den Tibor gleich im Schlafzimmer befestigte, für das Sternenkind, das wir nun hatten.
    Tibor ließ sich für drei Wochen krankschreiben. Ich hätte nicht gewusst, was ich ohne ihn in diesen ersten Wochen getan hätte. In dieser Zeit fuhren wir jeden Tag zum Friedhof. Für uns war das der einzige Grund, die Wohnung zu verlassen – außer, wenn wir etwas zu essen brauchten. Es wurde wieder warm und sonnig, wir nahmen eine Decke mit und ließen uns vor dem Grab nieder. Wir lasen Julius Geschichten aus einem Kinderbuch von Janosch vor, die mit dem kleinen Tiger und dem Bär. Wir pusteten für ihn Seifenblasen in die Luft, wir bliesen ihm Luftballons auf, wir legten frische Blumen auf dem Grab nieder. Wir saßen im Friedhofscafé und ließen uns die Sonne ins Gesicht scheinen, mitten zwischen den anderen Friedhofsbesuchern und den Touristen, die sich die alten Grabsteine ansehen wollten und die Gräber der berühmten Toten, die es hier gab, von den Gebrüdern Grimm über jede Menge preußischer Minister und Freiherrn bis hin zu Rio Reiser. Tibor saß vor seinem Stück Schokokuchen, ich vor meinem Schwarztee. Wir sahen müde aus, abgekämpft, traurig, hatten tiefe Augenringe, aber hier fand das niemand unpassend, hier fragte uns niemand, hier wurden wir in Ruhe gelassen. Das waren angenehme Momente während dieser drei Wochen.
    Natascha und Nicole, die guten Seelen des Cafés, halfen uns besonders. Sie hatten über all die Jahre so viele Papas und Mamas kennengelernt, die ihre Babys hatten beerdigen müssen. »Ach, Mädel, du siehst heute nicht gut aus«, sagte Natascha zu mir.
    »Hm«, sagte ich nur, wissend, dass ich mich nicht erklären oder verstellen musste.
    »Du wirst sehen, mit der Zeit wirst du das alles wie ein Puzzleteil in dein Leben einfügen. Das Leid und den Verlust«, sagte sie nur, »in das Bild deines Lebens.«
    Das war eine Metapher, die ich verstehen konnte: ein Bild in einem Puzzle. Wenn ich nur gewusst hätte, wo ich das einfügen sollte!?
    So gern wäre ich wieder gelaufen, wie vor der Schwangerschaft. Das Joggen war immer schon mein Ausgleich, dabei konnte ich mich bei allen Schwierigkeiten mental am besten sortieren und neu aufstellen. Doch noch durfte ich nicht laufen, die Erschütterungen wären nicht gut gewesen so kurz nach der Geburt. So wich ich auf Inlineskating aus, auch eine Sportart, die ich seit Jahren liebe: Schon eine Woche nach der

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