Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
im Hotel kennengelernt und wegen
seiner langen Tagesstrecke von Le Puy bis Saugues bewundert habe. Seine normale
pilgermäßige Ausrüstung wird von einem großen, bunten Regenschirm ergänzt, den
er jetzt geschlossen in die Schlaufen des Rucksackes gesteckt quer vor seiner
Brust trägt. Als er uns passiert, frage ich mich, wieso er nur vierzig
Kilometer am Tag gelaufen ist. Mit diesem Tempo wäre auch das Doppelte eine
Kleinigkeit!
Wir durchqueren das Dorf la Clauze, wo
sich ein mächtiger Wehrturm aus dem 12. Jahrhundert befindet. Das am Dorfrand
auf einem grauen Granitblock stehende Bauwerk ist selbst aus Granitstein erbaut
und erweckt den Eindruck, daß es sich hier um eine organisch aus dem Gestein
wachsende riesige Steinknospe handelt. Auch die Fläuser des Ortes sind aus
demselben Baumaterial: Die Ecken und die Öffnungen sind mit außergewöhnlich
großen Quadersteinen verstärkt; sonst sind die Wände aus Bruchsteinen gemauert.
Besonders interessant finde ich die eigenartige Bauart der steinernen Torbögen,
die sowohl in den Begrenzungsmauern der Grundstücke als auch über den
Eingangstüren der Häuser ausgebildet sind. Es sind eigentlich gar keine echten,
aus Segmentsteinen erbauten Bögen, sondern ein aus nur drei Steinen bestehender
bogenförmiger Abschluß, wobei zwei überdimensionale, an der Unterkante
bogenförmige Schultersteine mittels eines relativ kleinen Schlußsteins den
flachen elliptischen Torbogen bilden. Ich kann es mir kaum vorstellen, wie man
die zwei bis drei Meter langen, tonnenschweren Schultersteine mit den damaligen
technisch primitiven bäuerlichen Möglichkeiten hochhieven konnte.
Nach dem Dorf le Villeret-d’Apchier, wo
sich am Ufer des Baches die Ruine einer alten Wassermühle befindet, trennen
sich unsere Wege. Pierre läuft allein weiter. Ich nütze den Windschatten der
alten Gemäuer und setze mich wie gewohnt zur Mittagsrast auf einen der alten
Mühlsteine. Es ist eine himmlische Ruhe hier, nur etwas kühl, was die Pause auf
die Dauer eines kurzen Mahls verkürzt.
Die romanische Kirche in Chanaleilles
ist ein besonders schönes Beispiel für den Baustil der hiesigen Dorfkirchen.
Das aus dem hier abgebauten grauen Granit hochgezogene Gotteshaus ist an der
Ostseite von einer vierstöckigen arkadenförmigen Glockenmauer abgeschlossen. In
den Bogenöffnungen der oberen Arkadenreihen hängen sechs Glocken von
verschiedenen Größen, wie bei einem Glockenspiel.
Die Tür läßt sich öffnen. Das Innere
der Kirche ist wie das Äußere: graue, schwere, archaische Romanik. Eine gute
Gelegenheit für ein kurzes, gebetartiges Zwiegespräch, in dem ich meine Freude
und Dankbarkeit über die günstige Entwicklung meiner Pilgerreise ausdrücken
möchte. Das Wissen darüber, daß ich auf diesem Weg nicht mehr allein bin,
sondern vor und hinter mir sich andere Pilger befinden, die dasselbe Ziel wie
ich verfolgen, gibt mir eine Zuversicht, die ich in den letzten Wochen
vielleicht mehr vermißte, als mir bewußt gewesen ist. Ich freue mich, Pierre
heute abend wieder zu sehen.
Als ich die Kirche verlasse, regnet es
draußen. Unten im Dorf ist eine kleine Bar, wo ich einkehre: Der Regen soll
Gelegenheit bekommen, in der Zeit, in der ich meinen Kaffee trinke, aufzuhören.
Aber obwohl ich noch einen zweiten bestelle, regnet es weiter. Was soll’s? Ich
laufe halt im Regen weiter.
Die einsame Landstraße steigt weiter
und erreicht die Höhe von etwa 1300 Metern. Hier zweigt ein Feldweg nach links
zur Domaine du Sauvage, zu meinem Tagesziel ab. Das von Wäldern eingerahmte
kilometerweite Wiesengelände vermittelt einen unwirklichen, urig-fremden
Eindruck. Tiefe Nebelschwaden, (oder sind es gar Wolken?), ziehen
gespenstergleich ihre schnellen, niedrigen Bahnen. In den fernen, feuchten
Niederungen sind grasende Rinder zu sehen, halbwilde Herden, wie aus längst
vergangenen Zeiten. Die rauhe Einsamkeit dieses Landes übertrifft alles, was
ich auf meinem bisherigen Weg erlebt habe. Nur das leise Säuseln des Windes und
das Plätschern der Regentropfen begleiten das monotone Knirschen meiner
Schritte auf dem nassen Kiesweg. Wenn ich nicht wüßte, daß ich die im Nebel
versteckte Domaine bald erreichen werde, würde mich diese greifbare
Unendlichkeit beängstigen.
Der aus der nebligen Nähe unvermutet
auftauchende Gutshof gleicht in seiner grauen und geheimnisvollen Großartigkeit
der umliegenden Landschaft. Die sich am Rande eines Tümpels wehrhaft aneinander
schmiegenden, grauen Granitbauten
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