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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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schließlich muß sich mit der Bezeichnung assistente de
pèlerinage begnügen.
     
     

Dienstag, am 29. April
Von Domaine du Sauvage nach Aumont-Aubrac
    In der Nacht hat
es draußen kräftig gestürmt. Das Heulen des Windes in den alten Gemäuern hörte
sich so an, als ob die Wölfe früherer Zeiten wiederauferstanden wären. Auch das
Klappern der hölzernen Fensterläden wirkte geradezu gespenstisch.
    Wir stehen um halb sieben auf; um halb acht
gibt es von der Bäuerin Kaffee und selbstgemachte köstliche
Heidelbeermarmelade. So gestärkt machen wir uns auf den heutigen langen Weg
nach Aumont-Aubrac.
    Die ersten Kilometer laufen wir durch
einem dichten Kiefernwald. Die Bäume sind dick und relativ niedrig, ein
typisches Zeichen des langsamen Wachstums in dem kalten Höhenklima.
    Bald erreichen wir die alte
Pilgerquelle, die Fontaine Saint-Roch. Über dem Wasserrohr ist der Heilige
Rochus zu sehen, wie gewöhnlich in Pilgertracht und auf seine Wunde zeigend.
    Der Fußweg setzt sich in einem jungen
Kiefernwald fort. Viele der Bäumchen sind, wahrscheinlich infolge Eisbruches,
mitten durchgebrochen. Die umgeknickten Bäume versperren den Weg und lassen uns
an manchen Stellen durch die Büsche kriechen. Zwischen den Waldstücken sind
immer wieder weite Wiesen zu überqueren, auf denen so viele Narzissen blühen,
daß die flachen Hänge eher wie gelbe Rapsfelder aussehen. Die Wege sind von
Ginsterhecken gesäumt, die hier wieder in Blütenpracht glänzen und einen besonders
starken, lieblichen Duft verbreiten. Ich wußte nicht, daß Ginster so schön
duften kann.
    Mir ist es eine ungewohnte Situation,
mit anderen zusammen zu laufen: Plötzlich hechele hinter Maurice und Michel
her, der trotz seiner wunden Füße schneller ist, als ich laufen würde. Dann
warten wir auf Pierre, der Probleme mit seinen Wanderstiefeln oder seinen
Fersen hat. Ich merke, daß ich allein unbeschwerter laufen kann. Die anderen
mögen ähnlich denken: Nach St-Alban, wo wir einen Kaffee trinken, laufen wir wieder
getrennt.
    So folgt eine für mich sehr schöne und
einsame Wanderstrecke von etwa vier Stunden Dauer bis Aumont-Aubrac. Die
Landschaft ist gleichbleibend dünn besiedelt; auch hier sind die wenigen Häuser
aus Granit erbaut, die Dächer sind mit zwei-drei Zentimeter dicken gespaltenen
Schieferplatten gedeckt. Sogar die schlanken Pfosten der Weidezäune sind aus
Stein! Ich würde mich nicht wundern, wenn ich erführe, daß die Menschen hier,
ähnlich wie die Riesen in manchen Märchen, den Granit auch kochen und essen!
    In Aumont-Aubrac angekommen, suche ich
die Herberge und dabei begegne ich Michel. Er kommt von der Herberge und
berichtet, daß die Räume dort kalt und schmuddelig sind, also das Haus zum
Übernachten denkbar ungeeignet ist. Es gibt zwar ein Hotel in der Nähe, das man
zur Not nehmen könnte, aber er will es erst bei dem Pfarrer des Ortes
versuchen. Ich gehe mit.
    Der Herr Pfarrer ist ein sympathischer
Mann um die Sechzig, spricht sogar deutsch und erlaubt uns, in dem benachbarten
Gemeindehaus in einem Raum, wo sonst offensichtlich nur gebastelt, aber nicht
geschlafen wird, zu übernachten. Es gibt eine Dusche und Toiletten, eine kleine
Küche, und sogar einige alte Matratzen, die wir benutzen dürfen; allerdings
keine Decken. Jetzt brauchte ich doch einen eigenen Schlafsack, aber ich habe
keinen. In dem Treppenhaus finde ich aber einige Pappkartons, in denen sich aus
einer Kleidersammlung allerlei Textilien befinden. Ich suche mir eine dicke
Gardine mit Kordeln und Silberfransen aus: eine hochherrschaftliche Bettdecke!
    Der Herr Pfarrer macht uns darauf
aufmerksam, daß er um sechs Uhr in der Kirche die Messe lesen wird, und fragt,
ob wir daran teilnehmen wollen. Wir sagen unsere Teilnahme natürlich zu, schon
als „Gegenleistung“ für die Unterkunft.
    In der ehemaligen Benediktinerkirche
aus dem 11. Jahrhundert sind etwa zehn alte Frauen anwesend; auch mit uns, zwei
Männern, sind es nur ein Dutzend Teilnehmer. Einen Ministranten gibt es nicht,
die Frauen, und auch mein Pilgerbruder Michel, erfüllen diese Aufgabe, indem
sie die Messe laut mitsprechen. Ich verstehe den französischen Text nicht und
so fühle ich mich etwas fremd, fehl am Platz, eher aus Pflichtgefühl als aus
Bedürfnis anwesend. Aber wie die heilige Handlung voranschreitet, merke ich,
daß die Erinnerungen aus meiner Kindheit konkrete Gestalt bekommen. Meine Zeit,
die ich nach dem Krieg in einem kleinen ungarischen Dorf, wo meine

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