Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt
mit den schießschachtartigen, kleinen
Fensteröffnungen, halbrunden Steinbögen und mit Mauerpfeilern verstärkten
Außenwänden könnten als Kulissen für einen im Mittelalter spielenden Film
dienen.
Die Anfänge des riesigen Baus gehen auf
das 12. Jahrhundert zurück, als die legendären Templer drei Kilometer von hier,
am Rande des Pilgerweges, ein Pilgerhospital errichtet haben. Um die
wirtschaftliche Grundlage dieser Einrichtung zu sichern, gründeten sie hier,
abseits des Weges, diesen Landwirtschaftsbetrieb. Der mittelalterliche
Charakter des Hofs ist vollkommen erhalten geblieben.
Ich öffne die Tür und trete ein. Ein
spärlich beleuchteter großer Raum empfängt mich, der bis zur Hälfte mit großen
Tischen und Sitzbänken eingerichtet ist. In der Raummitte befindet sich ein
Küchenblock mit Herd, Spüle und Schränken voll Geschirr und Besteck. Rechts in
der Ecke sehe ich einen etwa vier Meter breiten offenen Kamin, aus dem das von
dicken Holzscheiten genährte lodernde Feuer den ganzen Raum mit wohliger Wärme
versorgt. Allerdings auch mit Rauch. Die Luft schmeckt wie die Schwarte von
Schwarzwälder Schinken.
Vor dem Feuer sitzt der Herr, der mit
Regenschirm wandert, und ist dabei, seine Sachen zu trocknen. Er heißt mich
herzlich willkommen; ist er doch schon vor Stunden hier angekommen und fühlt
sich wie zu Hause. Danach zeigt er mir, wo ich die Dusche und den Schlafraum
finde. Der befindet sich über dem Aufenthaltsraum. Etwa fünfundzwanzig einfache
Betten mit Decken und Nackenrollen warten auf den müden Pilger. Ich nehme das
Bett vor dem kleinen Fenster, wo auch der Heizkörper sich befindet. Die
Warmwasserheizung wird durch einen gußeisernen flachen Kessel betrieben, der
unten im offenen Kamin die Rückwand der Feuerstelle bildet. Solange dort das
Feuer brennt, ist es auch oben warm; wenn wir heute nacht das Feuer ausgehen
lassen, werden wir wohl in den Betten frieren müssen.
Die Hausherren sind noch nicht da, nur
ein weiterer einsamer Pilger, der seit zwei Tagen die Wunden, die er sich
während der zwei Tagesmärsche von Le Puy bis hierher an den Füßen gelaufen hat,
hier auszukurieren sucht. Er meint, morgen weiterlaufen zu können.
Spät am Nachmittag trifft der
Holländer, den ich vorgestern in St-Privat gesehen habe, mit seiner Frau ein.
Wo bleibt bloß Pierre? Er müßte schon lange hier sein. Dann aber, es ist schon
fast dunkel, ist auch er angekommen; er hat sich verirrt und einige Umwege
gemacht.
Damit sind wir vollzählig. Die Bäuerin,
inzwischen zu Hause angekommen, bringt uns von dem hiesigen, hausgemachten
Cantalkäse. Es werden Spaghetti gekocht und auch eine Flasche Rotwein findet
sich in irgendeinem Rucksack. Es werden die Erfahrungen, die jeder von uns
unterwegs gesammelt hat, ausgetauscht, wobei die Anzahl der Wandertage, die wir
hinter uns haben, sich stark unterscheidet: Für mich war es der
dreiundsiebzigste Tag, für Jack, den Holländer, der fünfundfünfzigste, für die
anderen der zweite oder dritte.
Der Herr mit dem Regenschirm heißt
Maurice, ist von Beruf Arzt, und als Auftakt seines Ruheständlerdaseins will er
bis Ende Juni, also in zwei Monaten, von Le Puy nach Santiago laufen. Ähnlich
der fußwunde Michel, ein Landschaftsplaner aus Paris. Er ist Anfang Sechzig,
durchtrainiert, und etwas verärgert über seine renitenten Füße, die ihn beim schnelleren
Vorankommen hindern.
Pierre steht noch im Erwerbsleben. Er
ist Heizungsbauer, Mitte Fünfzig, und er hofft, es in vier Wochen bis zur
spanische Grenze zu schaffen. Der Rest des Weges muß bis nächstes Frühjahr auf
ihn warten.
Und schließlich Jack, ein etwa
vierzigjähriger Waldorflehrer, der zu Fuß aus Amsterdam kommt, hat sich von
seinen Kollegen für ein halbes Jahr beurlauben lassen und hofft, daß er die
Erfahrungen, die er auf diesem langen Weg sammelt, auch in seinem noch recht
lange dauernden Berufsleben nutzbringend einsetzen kann. Seine Frau, Annemieke,
ist gewissermaßen zum Besuch da. Sie will Jack in den nächsten zwei Wochen auf
seinem Weg begleiten.
Zum Ausklang des fröhlichen Abends
entsteht die spielerische Idee, den einzelnen Mitgliedern unserer kleinen
Pilgergruppe nach der Länge des zurückgelegten und des noch geplanten Weges
eine Art Qualifikationsbezeichnung zu verleihen. Jack und ich bekommen den
Titel pèlerin supérieur, Maurice und Michel dürfen sich grand
pèlerin de St-Jacques nennen, Pierre ist, wegen des Splitterns der
Strecke, pèlerin 2ème classe, Annemieke
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