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Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt

Titel: Viermillionen Schritte bis zum Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: János Kertész
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Familie
hinflüchtete, in tiefem Glaube verbracht habe, ist mir wahrscheinlich noch
näher als ich dachte. Die fünfzig Jahre, die inzwischen vergangen sind, haben
mich zwar von jenem Dorf und jenem Glaube entfernt, aber hier, in dieser
kleinen alten Kirche, erlebe ich eine unsichere, zögerliche, überraschende
Rückkehr. Es ist alles so fremd und doch so vertraut: dasselbe Gefühl, wie ich
es beim tatsächlichen Besuch am Ort meiner Kindheit erlebt habe. Als dann alle
Anwesenden zum Altar schreiten, gehe ich aufgeregt, aber ohne Zögern mit, um
nach einem halben Jahrhundert Enthaltung wieder an einer Kommunion
teilzunehmen. Ein verwirrendes, aufwühlendes Erlebnis, aber ich fühle mich
dabei wohl.
     
     

Mittwoch, am 30. April
Von Aumont-Aubrac nach Nasbinals
    Ich habe unter derGardine ganz gut geschlafen. Wir machen uns in der Küche Frühstück: Kaffee und
Marmelade bekommen wir geschenkt, Brot haben wir selbst mitgebracht. Als wir
uns danach auf den Weg machen, treffen wir Annemieke und Jack, und kurz danach
auch Pierre. So ist unsere Gruppe von gestern fast wieder vollständig zusammen.
Das Wetter ist kühl aber trocken, der Aprilhimmel macht seinem Ruf alle Ehre:
Rasend rennen dramatische Wolkenfelder nach Osten.
    Nach etwa zwei Stunden erreichen wir
die Wegekreuzung „les Quatre-Chemins“, wo wir in dem gleichnamigen Gasthaus
eine Pause einlegen. In dem kleinen Familienbetrieb wurde heute früh geschlachtet.
In dem Raum neben der Gaststube wird, wie in Großmutters Zeiten, das gebratene
Fleisch und das ausgelassene Schmalz in Weckgläser eingelegt. In einer großen
Schüssel liegt das geronnene Blut des Schlachttiers; das soll in Scheiben
geschnitten und mit Eiern gebraten verzehrt werden.
    Wie wir voranschreiten, werden die
Bäume immer seltener, bis wir auch die letzten hinter uns lassen. Die hügelige
Hochebene, wo ausschließlich noch Weidegras wächst, ist mit merkwürdigen
Granitkugeln übersät, deren Größe von zwanzig Zentimetern bis zur Haushöhe
variiert. Mit den kleineren Steinen hat man in Laufe der Jahrhunderte die
Wiesenflächen eingerahmt; die großen, nicht zu bewegenden Steine liegen in der
Gegend herum, als ob Riesen sie nach einem Murmelspiel liegengelassen hätten.
Auf den weiten Grasflächen begegnen uns wieder die glücklichen Salers-Rinder,
die auch hier in Familienverbänden leben dürfen. Auch als Rindvieh muß man
Schwein haben.
    Müde, aber gut gelaunt erreichen wir
unser Tagesziel Nasbinals. Auch hier ist in der Dorfmitte eine schöne
romanische Kirche zu sehen. Die Kapitelle des einfachen, rundbogigen Portals
sind besonders sehenswert. An einem der hellen Steine sind zwei kämpfende
Gestalten zu sehen, der eine mit Speer und Lanze, der andere mit Pfeil und
Bogen.
    Die Gemeindeherberge ist neu
restauriert und fein eingerichtet. Weniger angenehm ist meine Entdeckung, daß
ich mein gutes Taschenmesser, ein handgefertigtes altes Stück, verloren habe.
Bald fällt mir aber ein, daß ich heute früh, nachdem ich das Frühstücksgeschirr
in Aumont-Aubrac abgewaschen hatte, mein Messer mit dem anderen Besteck in die
Küchenschublade gelegt haben muß. Ich bitte meinen Pilgerbruder Michel, für
mich bei dem Herrn Pfarrer anzurufen und ihn darum zu bitten nachzuschauen, ob
meine Vermutung richtig ist. Wir erreichen ihn. In zehn Minuten können wir
wieder anrufen, er will in der Zwischenzeit nachsehen.
    Es sind bange zehn Minuten. Dann aber
die gute Nachricht: Das Messer ist da! Glück gehabt! Bleibt noch die Frage, wie
ich es bekomme? In Cahors, zehn bis zwölf Tage von hier, werde ich bei meinen
Freunden einige Tage Pause machen. Wenn der Herr Pfarrer das Messer mit der
Post hinschicken würde?
    Er hat eine bessere Idee. Zu ihm kommen
täglich Pilger, um ihre Pilgerpässe stempeln zu lassen. Er möchte einen Pilger,
der einen ehrlichen Eindruck vermittelt, aussuchen und mit diesem Pilger das
Messer an die Adresse meines Freundes in Cahors schicken.
    Ich frage mich, wie man einen ehrlichen
Pilger von einem unehrlichen unterscheiden kann, aber ich möchte das
Urteilsvermögen meines gestrigen Gastgebers nicht in Zweifel ziehen und gebe
die Geschäftsadresse meines Freundes an; die ist leichter zu finden als die
Privatadresse.
    Abends gehen wir in ein Restaurant, wo
wir die Pilgerinnen aus Deutschland, die wir vor Tagen in Saugues gesehen
haben, wiedertreffen. Aus der Vierergruppe ist inzwischen eine Dreiergruppe
geworden: Eine der Frauen war der Strapaze, womit die Pilgerei nun

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