Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Und Sie … wie war Ihr Name?”
„Lena, Lena Pander.”
„Sie sind Studentin, oder?”
„Ja, zweites Semester.”
„War das Ihr erster Notfall?”
„Ja … also zumindest in dieser Form.”
„Geht es Ihnen gut?”
„Ja, alles okay. War nur ein ziemlicher Schreck.”
„Gut, Frau Pander. Sie sollten auch nach Hause gehen. Wenn etwas ist, dann können Sie bei uns anrufen … und jetzt mal raus hier.”
Als ich in der fast leeren Straßenbahn sitze, da kommt alles wieder. Ich glaube sogar, metallisch-süßlichen Blutgeruch in der Nase zu haben. Noch in der Klinik habe ich heiß geduscht und mich umgezogen. Es war das erste Mal, dass ich so etwas erlebt habe, dass ich so viel Blut gesehen habe. Wo verdammt hatte der das Messer her? In Gedanken gehe ich alles wieder und wieder durch. Als er auf der Bettkante saß, da hatte er die Hände im Schoß, kein Messer. Oder hat man das auf diesem beschissen kleinen Monitor bloß nicht gesehen?
Die Gedanken laufen im Kreis, ich finde nicht den Haken, an dem ich sie festmachen kann, um ihnen eine Richtung zu geben. Vielleicht hatte er das Messer in der Hose … aber dann hätte man doch den Griff … vielleicht hätte ich gleich sehen müssen, dass das nicht Urin sondern …
Einige Meter von mir entfernt sitzt eine alte Nonne. Sie hat einen mächtigen Schädel und Hände, die nach lebenslanger körperlicher Arbeit aussehen. Neben ihr steht ein großer Korb voller Brötchen. Verteilt sie die an Obdachlose? Um diese Zeit?
Völlig abstruse Gedanken kommen mir, während ich durch die nur widerwillig erwachende Stadt meinem Bett entgegen rattere. Vielleicht ist das mit Herrn Schlechter ja nur passiert, weil ich mir am Fenster im Treppenhaus diesen großen, schwarzen Vogel gewünscht habe. Der Vogel ist auch gekommen, ist durchs Fenster geschlüpft, als ich es zugemacht habe. Und dann hat er nicht mich, sondern Herrn Schlechter geholt. Aber Moment … ich weiß ja überhaupt nicht, ob er tot ist. Sie haben ihn auf die Intensivstation gebracht, sie haben sich beeilt … Vielleicht ist diese Nonne mit den Brötchen der große schwarze Vogel … Scheiße Lena! Hör auf mit dem Quatsch! Du musst ganz dringend ins Bett. Deine Gedanken laufen Amok. Als ich die Wohnungstür aufschließe, da höre ich Paulas leises Schnarchen. Sofort fühle ich mich besser.
Unsere Wohnung besteht nur aus einem großen Zimmer und einem Bad, das so klein ist, dass ich mit ausgestreckten Armen die gegenüberliegenden Wände berühren kann. Wenn wir es machen, dann habe ich Angst, dass man uns im Treppenhaus hört. Wissen die Nachbarn überhaupt, dass wir ein Paar sind?
Ich gehe zu Paula, ziehe mich aus und versuche, meine Liebste ein bisschen zur Seite zu schieben. Wenn sie alleine schläft, dann nimmt sie sich immer das ganze Bett. Dass sich ein Mensch so ausbreiten kann …
Von meinem Geschiebe wacht Paula auf, macht Platz und fragt mich, wie meine Schicht war.
„Ein Patient hat versucht, sich umzubringen”, antworte ich.
„Schön … das kannst du mir ja alles morgen erzählen.”
Sie hat überhaupt nicht gehört, was ich gesagt habe. Sie ist überhaupt nicht richtig wach. Ich lege mich hin, knipse das Licht aus und schaue ins Halbdunkel des kleinen Zimmers. Ich habe Angst, ganz viel Blut zu sehen, wenn ich die Augen schließe … einen großen, schmierigen Fleck, darin die Spuren von Füßen, Knien und Händen. Als ich mich endlich traue ist da nur gnädiges Schwarz. Goodbye cruel world. Neben mir das gleichmäßige Atmen meiner Liebsten.
Kapern
Herr Schlechter lebt. Zwei Tage kritischer Zustand, dann konnten sie ihn stabilisieren. Sie mussten ihm wohl ein größeres Stück Darm entfernen. So weit ich weiß, ist er mittlerweile wieder ansprechbar. Gott sei Dank.
Einige Mal habe ich mich mit Alex über das unterhalten, was vor einer Woche passiert ist. Er scheint die Sache gut wegzustecken, ist wohl auch stolz darauf, dass er dem alten Mann das Leben gerettet hat … Alpträume hat er keine, ebenso wenig wie ich. Keine schwarze Vögel, die alte Männer wegtragen. Keine Blutlachen, in denen plötzlich Fußabdrücke erscheinen.
Eigentlich hat die ganze Sache ja auch etwas Gutes: Wenn man in einem Krankenhaus arbeitet, dann muss man sich im Klaren darüber sein, dass Extremsituationen auftreten können. Irgendwann gerät jede Schwester und jeder Krankenpfleger in solch eine Lage, ebenso jeder Arzt und jede Ärztin. Ich war einfach etwas früher dran, ich habe das erste Mal schon
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