Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
ekelhaft vor mir. Ich stehe in der Tür und Herr Schlechter liegt in seinem Blut. Alex beugt sich über ihn und versucht, die Bauchwunde zusammenzupressen. Das Messer steckt noch, man darf es nicht herausziehen, daran erinnere ich mich, die Wunde kann sich noch weiter öffnen, Blutgefäße, die durch das Messer-
„LENA! HOL HILFE! MACH SCHON!”
Ich stehe da wie erstarrt, glotze auf das verschmierte Metall, das in Herrn Schlechter steckt. Mein Körper will in unterschiedliche Richtungen davon und das blockiert mich. Ich sehe, dass das Messer einen mattschwarzen Kunststoffgriff hat. Ich habe selbst so eines zu Hause, ich nehme es zum Zwiebelschneiden.
„JETZT MACH ENDLICH!”
Ein Ruck geht durch meinen Kopf … als würde mir jemand Stromkabel an die Schläfen halten. Ich renne los, zurück in das Zimmer mit den Monitoren. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Wo ist das scheiß Telefon? … da ist es! Ich wähle die Nummer für die Notfälle und schreie in den Apparat, dass wir Hilfe brauchen. Schwere Bauchwunde, starker Blutverlust. Macht schnell, verdammt noch mal! Beeilt euch! Wer ich bin? Lena heiß ich … Studentin, Schlaflabor. Pfleger Alex? Der versucht zu verhindern, dass der blutende Mann in zwei verdammte Teile auseinanderreißt. Jetzt helft uns endlich!
Weniger als eine Minute später stehe ich auf dem Gang, das Zimmer von Herrn Schlechter ist voller Leute, die sich um sein Leben bemühen. Meine Aufgabe ist es, den Patienten, die aufgeschreckt vom Gebrülle und Gerenne aus ihren Zimmern kommen, zu sagen, dass sie sich wieder hinlegen sollen. Ich komme mir vor wie ein Polizist in einem amerikanischen Krimi: Hier gibt es nichts zu sehen, Leute! Geht wieder schlafen und träumt was Schönes! Und macht keinen Scheiß mit irgendwelchen Messern!
Natürlich sage ich es nicht so. Ich sage den Leuten einfach, dass sie sich wieder hinlegen sollen, dass wir einen Notfall haben und dass gleich wieder Ruhe herrschen wird. Die meisten Patienten hören auf mich, gehen wieder ins Bett. Nur wenige bleiben stur stehen. Sie sind froh, dass mal was passiert, dass Lärm und Tod die Krankenhauslangeweile durchbrechen.
Doch Herr Schlechter ist nicht tot. Auf einer blutbesudelten Liege wird er Richtung Intensivstation geschoben. Sie machen schnell, dürfen keine Zeit verlieren. Zwei Ärzte und zwei Schwestern sind um ihn herum, kümmern sich um den Verletzten. Wo zum Teufel ist Alex? Er muss noch im Zimmer sein … und ja, da ist er. Ganz langsam habe ich die Tür aufgeschoben, der Boden voller Blut … darin Abdrücke von Schuhsohlen, von Händen und Knien. Ein Fenster steht offen und auf dem Krankenhausbett liegen aufgerissene Plastikpackungen.
Alex sitzt am Fußende des Bettes, aus dem vor wenigen Minuten Herr Schlechter gestiegen ist. Neben ihm eine junge Ärztin. Sie hält seine Hand. Als Alex mich sieht, da schaut er mir direkt in die Augen. Ich will ihm sagen, dass es mir so leid tut. Vielleicht ist es ja diese eine Sekunde, die ich gezögert habe, die Herrn Schlechter das Leben kostet. Wenn ich doch nur …
Alex sagt etwas, bevor ich etwas sagen kann. Er klingt nicht wütend, nur erschöpft.
„Hast du gesehen, dass der ein Messer hatte?”
Nein, sage ich. Ich habe es wirklich nicht gesehen. Wenn ich es gesehen hätte, dann hätte ich doch nicht …
„Der muss das so gehalten haben, dass es immer von seinem Körper verdeckt war. Ich hab das einfach nicht gesehen.”
Ich wiederhole, dass ich es auch nicht gesehen habe. An so etwas denkt man ja nicht. Das hier ist die Abteilung für Leute mit Schlafstörungen, nicht die geschlossene Psychiatrie.
„Ich habe das einfach nicht gesehen”, wiederholt Alex. Er schaut auf den Boden, zwei Meter vor ihm trocknet das Blut. Ich bilde mir ein, dass man es riecht, ich will raus hier, das Zimmer sieht aus, als wäre darin ein großes Tier geschlachtet worden.
„Mit so etwas rechnet man ja nicht”, sage ich. Etwas Besseres fällt mir nicht ein aber ich ertrage die Stille nicht. Sie hat etwas Bedrohliches, es muss doch weitergehen. Alex schaut immer noch auf den Boden. Er wirkt auf mich, als würde er angestrengt nachdenken: Wo hatte der das Messer? Wieso haben wir das nicht gesehen, dieses Messer? Ich suche den Blick der jungen Ärztin, schaue sie bittend an und mache eine Kopfbewegung Richtung Tür. Sie versteht.
„Okay, wir müssen jetzt langsam hier raus. Komm Alex, deine Schicht ist sowieso gleich zu Ende. Geh nach Hause und leg dich hin. Ich ruf dich später mal an.
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