Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Armlänge von mir entfernt … und auf einmal wird mir bewusst, dass ich schreien muss, schreien, so laut ich nur kann, direkt in dieses hässliche Tiergesicht. Und ja, es klappt. Das große Tier zerrinnt, es sackt in sich zusammen, wird oben ganz dünn und unten immer fetter, verteilt sich auf dem Boden der Fahrstuhlkabine. Jeder Zentimeter seines ekelhaften Körpers bewegt sich, krabbelt durcheinander … es sind Millionen schwarze Fliegen, das Tier besteht aus Millionen schwarzer Fliegen, ganze Klumpen fallen ab, platschen auf den Boden und krabbeln auseinander. Unzählige kleine Beine und Saugrüssel und Körper und Flügel und weiter und schreien und weiter schreien und solange ich weiter schreie kann es nicht zurück zu seiner Form und kann es mir nichts antun und ich muss immer nur und dann kann es nicht und-
Ich bin wach, ich werde geschüttelt, etwas hat mich hart am Arm gepackt. Ich schaue mich um, orientiere mich, suche den Haken, an dem ich die Realität festmachen kann. Da ist der Schrank und die Bettdecke … und wer verdammt schüttelt mich da? Kann das nicht mal aufhören? Ich bin doch schon wieder fast …
„LENA, JETZT KOMM ENDLICH ZU DIR!“
Was ist los? Warum schreit sie so? Ich muss doch eigentlich schreien, damit das-
WAS ZUM TEUFEL REDEST DU DA?“
„Ich weiß nicht … ich muss doch das Tier-“
Immer noch schüttelt sie mich. Kann sie das nicht mal lassen? Findet sie das nicht auch ein bisschen bescheuert?
„Also langsam hab ich echt die Schnauze voll“, sagt Paula. Wieso sagt sie so etwas?
„Ja“, antworte ich. „Ich doch auch. Also die ähm … die Schnauze ...“
Sie schaut mich an. Ist sie böse auf mich? Langsam begreife ich, dass da nichts ist, nichts außer uns. Sollte ich trotzdem lieber wieder schreien? Sind hier Fliegen?
„Bist du jetzt endlich wieder ansprechbar?“
„Ja … ja doch. Ich war nur gerade … jetzt lass mich doch mal los.“
Sie lässt mich nicht los. Sie lockert nur etwas den Griff.
„Du könntest dir mal die Fingernägel …“
„Scheiße Lena, du hast mir voll ins Ohr geschrieen. Ich hab langsam echt die Schnauze voll von deinem Scheiß, ich mach das echt nicht mehr lange mit.“
„Ja doch … tut mir leid, ich hab was geträumt. Jetzt lass mich doch mal los bitte. Ich kann doch nichts dafür, wenn ich Alpträume habe.“
Sie lässt mich los, schüttelt den Kopf. Wieso macht sie denn kein Licht an? Sie könnte doch mal …
„Das geht nicht so weiter mit dir, das geht einfach nicht so weiter.“
Ja doch, ist ja gut. Ich hab' ja verstanden. Was verdammt will sie jetzt von mir? Ich lehne mich rüber und schalte meine Nachttischlampe an. Dann schaue ich mich im Zimmer um.
„Suchst du etwa wieder nach Gespenstern?“, fragt mich Paula.
„Nein, ich dachte nur-“
„Lass mich in Ruhe mit deinem Scheiß“, unterbricht sie mich. „Und wenn du mir noch einmal so ins Ohr brüllst, dann werf' ich dich hier raus, dann schläft du im Wohnzimmer. Ich dachte echt, ich krieg' 'nen Hörschaden.“
Sie murmelt noch irgendetwas, aber ich verstehe es nicht … ist wahrscheinlich besser so. Dann dreht sie sich auf die Seite und wickelt sich in ihre Decke ein. Ich mache das Licht aus, lege mich auf den Rücken und starre Richtung Zimmerdecke. Soll ich noch irgendwas zu ihr sagen? Am liebsten würde ich sie ja fragen, ob wir nicht ausnahmsweise in einer anderen Wohnung schlafen könnten … vielleicht in der mit den Insekten. Aber das geht nicht, dann hält sie mich für komplett durchgedreht. Ich befürchte, ich habe gerade total dummes Zeug geredet.
***
Liegen und atmen … ich bin nicht allein. Sie ist sauer auf mich … aber zumindest ist sie bei mir. Morgen können wir über alles … liegen und atmen, ein und aus, ein und aus, immer langsamer. Sogar die Wärmflasche ist noch schön warm. Jetzt kommt der Schlaf, gleich hat er mich. Ganz behutsam deckt er mich zu und nimmt mich in seine vielen, vielen Arme. Die Welt löst sich auf, verschwimmt, wird ruhig und friedlich … und dann, dann bin ich unterwegs. Wohin soll's denn gehen, Mademoiselle Lena? Haben Sie einen bestimmten Wunsch? Ach, bringen Sie mich weg von hier, Herr Schlaf. Bringen Sie mich irgendwohin, wo alles normal und langweilig und viel viel weniger anstrengend ist. One day my life will … be a cho … colate cake … shake … and-
…
Ich schlafe einen unruhigen Schlaf, jede einzelne von Paulas Bewegungen zieht mich ein klein wenig zurück in die Welt, aus der ich
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