Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
verschwommene, magere Gestalt. Nur ganz kurz taucht sie am Fenster auf und mir ist als hätte mich eine gewaltige, eiskalte Hand gepackt. Scheiße! Scheiße! Scheiße! Mit zitterigen Fingern suche ich Paulas Nummer. Geh ran! Geh ran! Geh ran! Ja!
Ihre Stimme kommt dumpf und tonlos, müde und völlig genervt. Die altbekannte „Ich hab die Schnauze voll“-Tonlage.
„Was willst du denn jetzt noch?“
Ich schnappe nach Luft. Ich muss zu Atem kommen. Plötzlich geht es, eines nach dem anderen kommen die Worte heraus. Es klingt ganz vernünftig, was ich da sage.
„Paula, da war gerade jemand oben am Fenster. Bitte sag mir, dass du das warst. Bist du gerade oben am Fenster gewesen?“
Keine Antwort.
„Bitte Paula, nur diese eine Frage. Warst du gerade oben am Fenster? Hast du gerade zu mir runter geschaut?“
Wieder keine Antwort. Gerade will ich meine Frage wiederholen, als Paula doch etwas sagt. Sie klingt unheimlich müde.
„Lass mich in Ruhe, Lena. Lass mich doch endlich in Ruhe.“
Ohne ein weiteres Wort legt sie auf. Ich versuche es wieder und wieder, aber sie geht nicht ran. Als ich erschöpft und verzweifelt aufgebe, da ist es exakt 03.41 Uhr. Was soll ich jetzt tun? Noch nie habe ich mich so alleine gefühlt. Am liebsten würde ich Strauss anrufen. Aber ein wenig Selbstbeherrschung habe ich noch. Und dieser Rest hält mich davon ab, mitten in der Nacht einen Krebskranken aus seinem Sterbebett zu klingeln.
Vielleicht war es ein Fehler. Vielleicht hätte ich wieder zu ihr nach oben gehen sollen. Vielleicht hätte ich noch einmal versuchen sollen, mit ihr zu sprechen. Vielleicht hätte ich auch das verdammte Haus anzünden und mit meinem Wagen die Feuerwehrzufahrt blockieren sollen … keine Ahnung.
Aber ich lag nur eine halbe Stunde in meinem Auto, schaute immer wieder nach oben und hatte abwechselnd Mitleid mit mir selbst und beschissene Angst um Paula, letzteres gemischt mit einem Hass, wie er vielleicht nur in Liebesbeziehungen wachsen kann. Mit heißem Herzen hoffte ich, Paula möge die gleiche Erfahrung wie ich machen. Ich hoffte mit jeder Windung meines überreizten Hirns, dieses Wesen, dieses Ding, dieses tote Mädchen mit dem entstellten Gesicht, dieses Was-auch-immer möge aus der Dunkelheit des Zimmers zu ihr ins Bett kriechen. Ich hoffte wirklich, Paula käme halbnackt gelaufen, barfuss über den Asphalt, weinend in meine Arme. Oh Gott Lena, ich hab sie gesehen. Sie ist dort oben. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht geglaubt habe.
Aber nichts dergleichen passierte. Oben war es dunkel und unten war es kalt. Ich fror in meinem kleinen Auto vor mich hin, konnte nicht schlafen und fand auch nicht die Kraft, wieder nach oben zu gehen. Das war nicht nur eine beschissene Erscheinung, durch die man hindurchgehen kann. Sie – die Schwester von Frau Diehl, wer denn sonst bitte? Was auch immer sie jetzt ist – sie hat mich berührt, sie hat mir über den Kopf gestreichelt. Und dann habe ich sie berührt, habe ihre Wirbel und die Rippenbögen gespürt. Das war körperlich, so körperlich wie dieses Lenkrad vor mir, wie die tausend Pflastersteine, aus denen der Parkplatz besteht … das war keine Halluzination und kein Traum, das war echt. Ich habe sie verdammt noch mal angefasst.
Und wenn sie echt sein kann, dann kann sie echte Sachen machen, die echte Auswirkungen haben. Sie kann Paula ein Messer in den Hals rammen. Sie kann ihr ein Kissen aufs Gesicht drücken. Sie kann die Treppen herunterkommen und über den Parkplatz … Meine Gedanken verheddern sich, werden zu einem schmierigen, dumpfen Knäuel, bleiben stecken, verkleben mir Seele und Hirn. Blöd und müde sitze ich in meinem Auto, fühle mich wie ein Stück Gemüse, das man im Kühlschrank vergessen hat und das dort langsam vor sich hin schrumpelt. Ich bin so verdammt im Arsch, man könnte mir Zahnstocher unter die Fingernägel schieben und ich würde mich nicht wehren. Wie ein scheiß Gemüse, das man irgendwo vergessen hat …
Und dann … es ist fast halb fünf, da blicke ich ein letztes Mal nach oben – nur Dunkelheit, fette, schmierige Dunkelheit –, stelle die Sitzlehne gerade und starte den Motor. Ich fahre vom Parkplatz, fahre durch die völlig leeren Straßen, fahre die dreißig Kilometer bis zu meinen Eltern.
In meinem alten Kinderzimmer weine ich mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen entdecken meine Eltern erst das kleine Auto in der Einfahrt, und dann auch mich, ihre dumme, ängstliche Tochter.
„Lena? Bist du das?
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