Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
doch so gerne, zumindest für ein paar Stunden, fliehen möchte. Ich bin so verdammt müde, gleichzeitig nervös und ängstlich. Ein kleines Mädchen in der Dunkelheit, das auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Realität balanciert. Ja, ich bin noch hier in dieser Wohnung, aber die Wohnung ist groß und freundlich und es wachsen Blumen aus dem Fußboden. Über mir scheint die Sonne und Vögel zwitschern. Die Wohnung hat auch keine Wände mehr, nur noch ein paar einsam und nutzlos herumstehende Türen. Was wollen die denn noch hier? Man kann doch einfach um sie herum gehen. Ganz wunderbar duftet es nach Heu und nach Sommer und …
Paula steht auf und geht aufs Klo. Ihre Bewegungen, das Wackeln und Quietschen der großen Matratze, ziehen mich zurück in die Welt. Sofort vermisse ich die duftende Sommerwiese, die ich mir gerade zusammengeträumt habe.
Es ist kurz nach drei Uhr und Paula ist weg … nicht weit weg, aber weg. Ich liege einsam und allein im grieseligen Halbdunkel des Schlafzimmers und hoffe, dass sie gleich wiederkommt. Mir ist, als hörte ich ganz leise Musik, möglicherweise der Fernseher von Frau Diehl. Aber um diese Zeit? Die Musik hört sich an wie alte Jahrmarktsmusik … eigentlich ganz schön. Sie ist wirklich ganz leise, fast nicht wahrnehmbar. Ach Paula, komm schon zurück aus dem Badezimmer. Und gib mir doch einen dieser ganz leichten, fast nur gehauchten, Küsse auf die Stirn. Das machst du doch manchmal, wenn du denkst, dass ich schlafe. Ich mache einfach die Augen zu und warte, dass du kommst.
Als ich Schritte höre, da zucke ich zusammen. Aber es ist Paula, Paula Paula … Paula. Sie setzt sich auf den Rand des Bettes, ich stelle mich schlafend und … nein, sie küsst mich nicht auf die Stirn, sie streicht mir nur ganz langsam übers Haar. Immer noch ist mir, als hörte ich schiefe, sich in endlosen Schleifen drehende Jahrmarktsmusik. Paula hat verstanden, dass es keine Absicht war, dass ich sie nicht anschreien wollte. Ich kann doch nichts dafür, dass ich solche Alpträume habe. Noch einmal streicht sie mir über den Kopf, erst nur mit den Fingerspitzen, dann mit der ganzen Hand. Ich liege da und lächle, mein ganzer Körper kribbelt. Ich bin so froh, dass sie bei mir ist … wir schaffen das alles schon irgendwie, wir kriegen das schon irgendwie hin … wir müssen nur zusammenhalten.
Das vertraute Rascheln ihrer Decke, sie schlüpft zu mir ins Bett.
„Tut mir leid wegen vorhin“, flüstere ich in die Dunkelheit. Jetzt weiß sie, dass ich nicht schlafe. Dann schiebe ich meine rechte Hand zu ihr rüber, finde die Stelle zwischen den Schulterblättern und streiche über ihre glatte, kühle Haut. Ich lasse meine Finger ihren Rücken hinunter gleiten, spüre ihre Wirbel und die Rippen. Paula ist dünn, sie hat abgenommen. Auch für sie ist das alles sehr schwierig, sie ist wirklich sehr dünn, mir ist das überhaupt nicht aufgefallen.
„Du musst mehr essen“, flüstere ich in ihre Richtung. Es kommt keine Antwort.
Und dann höre ich die Klospülung.
„Paula?“
Ich reiße die Augen auf und sehe in ein Gesicht, das nicht Paulas Gesicht ist. Schwarzgraue Umrisse, zwei feucht glänzende Augen und darunter ein seltsam schiefer Mund. Ich nehme die Hand von dem dürren Körper und … jetzt erst begreife ich vollständig, was hier passiert. Aus dem Bad das Geräusch von fließendem Wasser, Händewaschen. Ich unterdrücke einen Schrei, stoße mich von der Matratze ab, flüchte auf meine Seite des Bettes, stoße mit dem Ellenbogen gegen die Nachttischlampe und werfe sie hinunter. Völlig erstarrt beobachte ich, wie dieses Ding, das ich da gerade gestreichelt habe, wie es ganz langsam aufsteht und zur Schlafzimmertür geht. Es ist nackt und mager und dann, nur drei Sekunden nachdem es verschwunden ist, kommt Paula ins Schlafzimmer. Hat sie es nicht gesehen? Sie muss ihr doch begegnet sein! Ich sitze auf dem Bett, in einer Hand die Nachttischlampe, in der anderen einen Zipfel der Bettdecke, den ich mir wie ein magisches Schutzsymbol vor die Brust halte. Ich drücke den Lichtschalter und ja, es ist Paula. Niemand hinter ihr, niemand neben ihr, niemand, der ihr auf dem Rücken hockt, niemand sonst im Zimmer. Paula hält die Hand vors Gesicht und wendet den Kopf ab.
„Mensch Lena, mach das Licht aus! Was treibst du denn jetzt schon wieder?“
Ich lasse die Nachttischlampe fallen, springe aus dem Bett und will sie umarmen. Meine Beine sind ganz weich, als wären sie nur noch Fleisch
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