Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
vielleicht vorbeikommen?“
„Könnten Sie ihn vielleicht wecken? Es ist wirklich sehr wichtig für mich.“
Schweigen. Dann wieder die Tochter, zögerlich, leise.
„Wie gesagt, er schläft gerade. Ich würde ihn nur sehr ungern wecken … Und wahrscheinlich wäre er auch gar nicht ganz bei sich.“
„Bitte Frau Strauss, es wäre wirklich-“
„Frau Pander“, unterbricht mich die Tochter, „es geht zu Ende mit ihm. Er könnte nicht einmal mehr das Telefon halten.“
Mir ist, als würde ich unter Steinen und Sand begraben, die Luft geht mir aus. Ein Blick zu Paula, immer noch schaut sie Richtung Decke. Was soll ich jetzt tun? Als ich nichts sage, spricht Strauss' Tochter:
„Sie können aber gerne vorbeikommen, Frau Pander. Mein Vater mag Sie sehr, er würde sich freuen, Sie noch einmal zu sehen.“
„Warum geht das so schnell?“, stammle ich. Ich sage es eher zu mir selbst als zu ihr.
„Manchmal geht es schneller und manchmal langsamer. Bei ihm war der Krebs schon sehr fortgeschritten, als er entdeckt wurde.“
„Ja … ich weiß. Aber trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass das mit dem Krebs so-“
Ich vollende den Satz nicht, fühle mich jetzt ganz begraben. Ich verspreche Strauss' Tochter, dem Sterbenden einen letzten Besuch abzustatten. Dann verabschieden wir uns. Wir sprechen ganz leise, wie in einer Kapelle, wie an einem frisch geschlossenen Grab. Ich lege das Telefon weg und atme tief durch. Am liebsten würde ich mich ins Auto setzen und einfach abhauen, einfach immer weiter fahren, irgendwo hin, wo ich noch nie gewesen bin … bis ich an irgendein Meer komme. Aber da sagt Paula etwas, ein einziges, ekelhaftes Wort nur:
„Und?“
Es ist nicht nur das Wort selbst, es ist die Betonung. Und es ist dieser kalte, abschätzige Blick. Sie hat doch mitgehört, sie hat doch kapiert, dass Strauss im Sterben liegt. Warum also dieses beschissene „Und“?
„WAS UND?“
Paula stößt sich von der Küchentheke ab, kommt auf mich zu.
„Schrei mich nicht an, Lena.“
Sie kommt immer näher. Am liebsten würde ich ihr an die Gurgel gehen … und sie mir.
„Du hast doch mitgehört. Du hast doch gehört, dass der im Sterben liegt. Und dann fragst du so bescheuert. Der Typ hat Krebs im Endstadium.“
„Aha, und wenn er nicht zufällig Krebs im Endstadium hätte, dann würde er mir jetzt erklären, dass hier drin irgendwelche Gespenster unterwegs sind und dass er dir viertausend Euro gegeben hat, damit du ihm eins einfängst. Habe ich das richtig verstanden?“
Ich antworte ihr nicht.
„Habe ich das richtig verstanden?“
„Paula, lass uns doch aufhören damit. Lass uns doch endlich wieder normal miteinander sprechen. Hier oben, in diesem Stockwerk, hier erleben seit Jahrzehnten Leute unheimliche Sachen. Und ich hatte letzte Nacht ein wirklich heftiges Erlebnis, ich zittere jetzt noch, wenn ich daran denke. Bitte Paula, verlass mit mir diese Wohnung, bevor was passiert. Ich mach das doch nicht, um dich zu ärgern, ich habe einfach Angst um dich.“
Ich stehe auf und gehe auf sie zu.
„Stopp Lena, fass' mich nicht an. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du selbst langsam durchdrehst und das irgendwie auf die Wohnung hier projizierst? Hast du schon mal daran gedacht?“
„Natürlich hab ich daran gedacht, ich hab' an jeden Scheiß gedacht, den du dir vorstellen kannst! Aber ich bin ja nicht die Einzige, die hier Sachen erlebt hat. Der Typ, der sich umbringen wollte … der sich das Messer in den Bauch gerammt hat, der hat auch hier gewohnt.“
„Der vom Schlaflabor oder wie?“
„Ja, genau der. Der hat hier in der Wohnung gelebt und dann ist dem irgendwas begegnet und das hat ihm so zugesetzt, dass er sich umbringen wollte. Strauss hat mit dem gesprochen, der-“
Paula unterbricht mich.
„Moment, Moment, Moment. Das wird mir gerade alles zu abgedreht. Und dieser Strauss hat jetzt Krebs … ist das alles nicht ein bisschen sehr unwahrscheinlich?“
Ich kann es nicht fassen, gleich kommt mir die Kotze hoch. Mir explodiert eine Sicherung und ohne es zu wollen, brülle ich sie an.
„ES VERRECKEN JEDEN TAG LEUTE AM KREBS! DA IST ÜBERHAUPT NICHTS UNWAHRSCHEINLICH DRAN!“
Stille. Dann Paula:
„Du gehst jetzt besser.“
„Das ist auch meine Wohnung.“
„Lena, du gehst jetzt oder ich werf' dich raus. Wir brauchen eine Auszeit.“
„Du kannst mich nicht einfach rausschmeißen. Der Mietvertrag läuft auf mich.“
„Der läuft auf uns beide. Geh jetzt raus hier. Ich
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