Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Ist etwas passiert?“
Nein, nichts ist passiert. Zumindest nichts, was ich mit euch bereden will. Ich habe keine Kraft für Erklärungen, ich will euch keine Gespenstergeschichten erzählen … und ich kann eure besorgten Mienen nicht ertragen. Sorgen, Sorgen, Sorgen, meiner Familie täglich Brot, seit Generationen schon. Lasst es doch endlich gut sein. Nein, ja, nein, alles super mit mir und Paula. Ja, wirklich … alles bestens. Okay, ich muss dann mal los.
Nach einem schnellen Frühstück fahre ich zurück zum Herbsthaus. Ich habe mir ein bisschen Mut und ein bisschen Kraft zusammengekratzt. Ein kleines Häuflein nur, aber immerhin. Mal sehen, was sich daraus machen lässt, mal sehen, wozu das Häuflein reicht.
Als ich auf den Parkplatz biege, da ist erstaunlicherweise immer noch etwas übrig von meinem Mut, sogar ein wenig Zuversicht ist dazugekommen. Ich parke mein Auto neben dem nur wenig größeren Wagen des Pflegedienstes und nehme die Treppen zum Eingang. Alles ganz normal, alles wie immer. Rechts die Briefkästen in Reih und Glied, geradeaus der Innenhof mit den längst toten Pflanzen. Was hatte ich erwartet? Warum sollte denn nicht alles ganz normal sein?
Ich gehe bis zu der großen Glastür. Sind Kerstin und Tobias da? Vermutlich würde ich mich besser fühlen, wenn sie da wären. Meine Hand ist schon zur Faust geformt, aber dann klopfe ich doch nicht. Sie würden sowieso nicht reagieren, könnte ja sonst wer sein. Ich müsste aufschließen, reingehen und nachsehen.
Okay, Lena, keine Ausflüchte mehr. Kein Herumgestreune im Erdgeschoss. Du musst hoch zu Paula und mit ihr sprechen. Ist sie überhaupt da? Hätte ich nicht vorher anrufen sollen? Vielleicht liegt sie tot im Bett, abgestochen oder erschlagen von …
Nein Nein Nein, sie hat nie jemandem etwas getan! Es haben sich nur Leute selbst etwas angetan! Und sofort die Gegenstimme: Aber sie war da, sie war wirklich da, du hast sie gefühlt, du hast sie angefasst und sie hat dich angefasst. Und wenn jemand jemanden anfassen kann, dann kann er auch alles andere.
Weiter Richtung Treppenhaus, vorbei am Aufzugschacht, vorbei an Zerfall und verblasstem Glanz. Was musst du mal schön gewesen sein, du beschissener, stinkender Betonklotz! Wie konntest du dich nur so gehen lassen?
Ich öffne die schwere Tür und steige hinauf in den vierten Stock. Hallo Aufzug, rotes Maul! Und schon – ich habe das unbestimmte Gefühl, etwas nicht bedacht zu haben – stehe ich vor unserer Wohnungstür und halte den Atem an. Nichts zu hören, keine Geräusche … kein Radio, kein Wasserrauschen und kein Klappern ihrer Tastatur. Ich drehe den Schlüssel im Schloss und betrete unsere Wohnung.
Alles normal, alles wie immer. Die Tür zum Badezimmer steht offen, vor mir die großen Fenster und die Balkontür. Paula? Bist du hier? Können wir reden? Ich gehe durch die Zimmer, das Bett ist gemacht, in der Spüle steht Geschirr mit Frühstückskrümeln, ihr Computer ist ausgeschaltet. Warum ist sie so früh schon unterwegs? Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass sie mich nicht mehr will, dass sie bei jemand anderem ist. Sie wird nicht ans Telefon gehen, wenn ich sie anrufe. Und dann, in ein paar Tagen, werde ich sie irgendwo sehen, händchenhaltend, frisch verliebt und bis oben hin voll mit neuem Glück. Es dauert etwa eine Minute, bis ich die Vorstellung erfolgreich zurückgedrängt habe, dieses Biest ist erstaunlich zäh.
Während ich mir ein Glas Orangensaft eingieße – Scheiße, ich fühle mich wie in einer fremden Wohnung – kommt mir die Idee, dass Paula vielleicht eine Nachricht hinterlassen hat. Dafür nimmt sie immer so gelbe Klebezettel. Ich gehe kalten Orangensaft trinkend durch die Wohnung … nichts, kein Zettel … vielleicht … nein, auch hier nichts. Also setze ich mich auf die Couch und rufe Paula an. Ihr Anruf kann zur Zeit nicht … bitte hinterlassen Sie … und so weiter.
„Hallo Paula, ich bin es. Bitte ruf mich zurück, wir müssen unbedingt reden. Ich hab dich lieb.“
Es fällt mir schwer, die letzten vier Worte auszusprechen. Ja, ich habe sie lieb … ich liebe sie sogar. Aber zugleich ist da ein Abscheu, der sich nicht in Worte fassen lässt. Ich bin so verdammt enttäuscht von ihr, wie eine lästige Verrückte hat sie mich gestern behandelt, wie ein lautes, unberechenbares Ärgernis, das man sich vom Leib halten muss. Vielleicht sollte ich einfach anfangen zu packen. Vielleicht sollte ich unseren ganzen Kram in die Koffer und Reisetaschen
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