Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Scheibe und lausche. Stimmen, dann Musik, dann plötzlich Stille … wieder Stimmen, nur aufgeregter als vorher. Hört sich nach Fernseher an, sie schauen Fernsehen, sie zappen sich durch die Kanäle. Vielleicht sitzen sie Arm in Arm auf ihren Schlafsäcken, eingewickelt in die alten Decken, die sie im Keller gefunden haben. Vielleicht treiben sie es auch und lassen dazu den Fernseher laufen. Nein, das nicht … ich bin mir ganz sicher, dass sie einfach nur dasitzen und fernsehen. Auf einmal ein Mädchenlachen, so laut, dass es nicht aus dem Fernsehapparat kommen kann. Mich beruhigt, dass sie da sind. Ein bisschen bin ich auch eifersüchtig auf ihre Zweisamkeit, vor allem aber bin ich froh, dass sie im Haus sind. Umso mehr Menschen, umso besser.
Ich nehme mein ausgekühltes Ohr vom Glas und gehe Richtung Treppenhaus. Der Aufzug ist nicht da, wahrscheinlich ist das Ding in der vierten. Könnte man diesen Aufzug nicht einfach ausschalten, ihm den Strom abdrehen? Müsste es da nicht irgendwo einen Sicherungskasten geben? Schon bin ich im ersten, dann im zweiten … dritten und vierten Stock. Ich drücke die Tür auf und ja, da ist es, das rote, mit Samt ausgekleidete Maul. Hallo, alter Freund! Wieder auf Tour gewesen heute Nacht? Die verdammte Kabine sieht wirklich aus wie ein aufgerissener Mund, fehlt nur noch ein fetter Teppich als Zunge.
An der Wohnung von Frau Diehl vorbei – und vorbei an der Wohnung ihrer Schwester – gehe ich zu der Tür, hinter der ich Paula vermute. Einige Sekunden stehe ich in der Stille des Flurs und überlege, was ich ihr sagen soll. Dass mich ihre Arbeitskollegin angerufen hat und dass sie sich unbedingt bei der Arbeit melden muss? Ja, das wird es tun, damit wäre ein Anfang gemacht … und vielleicht entwickelt sich ja so etwas wie ein Gespräch. Es ist seltsam: Vor einigen Tagen haben wir uns noch auf den Mund geküsst, und jetzt geht das nicht mehr, jetzt stehe ich vor einer verschlossenen Tür und überlege, wie ich mit meiner Freundin – ja verdammt, das ist sie trotz allem! – ein Gespräch beginnen kann, das nicht in ein „Lass mich in Ruhe“ mündet.
Ich klopfe an …
Keine Reaktion, keine Geräusche aus der Wohnung.
„Paula?“
Nichts.
„Paula, bist du da?“
Drei Sekunden … vier Sekunden … fünf Sekunden
…
„Paula, ich komm' jetzt rein.“
Ich stecke den Schlüssel ins Schloss – meinen Schlüssel, nicht den Generalschlüssel – und tatsächlich, es klappt. Kein anderer Schlüssel, der von der anderen Seite das Schloss besetzt hält. Ist Paula weg? Ist sie doch noch zur Arbeit gefahren?
Als ich die Wohnungstür aufdrücke, da höre ich ein Poltern, ein helles und leises Poltern, eines der Geräusche, die ich aus meiner Kindheit kenne. Ich trete in die Wohnung und tatsächlich, da liegen verschiedenfarbige Bauklötze auf dem Boden. Ich kenne diese Klötze aus meiner Kindheit, sie haben abgerundete Ecken und wenn man mit dem Fingernagel zudrückt, dann hinterlässt man kleine Halbmonde in dem weichen Holz. Diese kleinen, bunt lackierten Holzstücke haben das Geräusch gemacht. Aber warum?
Ich brauche einige Sekunden, um zu begreifen: Paula hat hinter der Tür einen Turm, eine Pyramide, ein Was-auch-immer aus verschiedenfarbigen Bauklötzen aufgebaut. Dann hat sie die Tür gerade so weit geöffnet, dass sie hinausschlüpfen konnte, ohne ihre Konstruktion umzuwerfen. Und dann komme ich, mache die Tür etwas zu weit auf und werfe das Ding um. Wenn Paula wiederkommt, dann wird sie wissen, dass ich in der Wohnung war. Wieso stellt sie mir so eine Falle?
Ich kicke einen der Bauklötze weg und wähle Paulas Nummer … wieder nur diese saublöde Ansage, dass der Teilnehmer nicht … Scheiße Paula! Was habe ich dir getan? Wir sind seit Jahren zusammen, du kannst mich doch nicht einfach so abservieren! Ich lege auf und tippe eine SMS:
„Habe gerade deine blöden Bauklötze umgeworfen. Das ist auch meine Wohnung. Lass uns reden. Du musst dich bei der Arbeit melden!“
Und dann, nach kurzem Überlegen:
„Ich hab dich sehr lieb, bitte ruf mich an.“
Ich habe die Nachricht verschickt, bin mir aber sicher, dass Paula sie nicht lesen wird. Sie wird meinen Namen sehen und die SMS ungelesen löschen. Ich könnte alles kurz und klein schlagen vor Wut, ich könnte ihren scheiß Laptop aus dem Fenster werfen! Sie kann mich doch nicht einfach aus ihrem Leben verbannen!
Zehn Minuten später habe ich weder etwas aus dem Fenster geworfen noch irgendetwas zerschlagen.
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