Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
und nach meinen Körper eroberte, kam auch der pochende Kopfschmerz zurück. Kurz nach neun ging ich nach unten und setzte mich ins Auto. Dort fror ich weiter und gegen halb zehn fuhr ich dann zu meinen Eltern. Ich nahm eine weitere Kopfschmerztablette und ging ins Bett. Zum Glück konnte ich schlafen.
Jetzt bin ich wieder auf dem Weg zum Haus. Es sind nur dreißig Kilometer und doch werde ich fast eine Stunde brauchen – so viele Menschen, die alle irgendwo hin wollen. Der Lärm, das Gedränge, der übliche Straßenkampf, das Sich-hinein-drängen in Lücken, das dumpfe Wummern aus dem mattschwarzen Golf neben mir, das Quietschen der Lastwagenbremsen und die wagemutigen Zickzackkurse eiliger Radfahrer, all das beruhigt mich, Hier ist Leben, hier machen Menschen Menschensachen. Und ich bin mittendrin, mitten im Gedränge und Gestank und Gelärme. Ich wünschte, dieser ganze Trubel würde sich plötzlich dazu entschließen, mein kleines, rotes Auto als Anführer zu akzeptieren. Ich wünschte, er würde mir folgen, sich zu einer hochhausgroßen Welle aus Leben vereinen und mich zum Herbsthaus begleiten. Ich wünschte, der Lärm und der Kampf, das Wollen und Müssen und Hoffen, der Ärger und die Freude, all das würde sich über das Herbsthaus ergießen, in das graue Ding eindringen, jeden leeren Flur und jedes verlassene Zimmer mit Geräuschen füllen … einfach diese verdammte Totenstille vertreiben, die über dem Gebäude liegt. Doch als ich den Parkplatz erreiche, da ist der Lärm der Stadt wie abgeschnitten, nur noch ein entferntes, dumpfes Rauschen dringt durch das geöffnete Wagenfenster … es ist schon mehr Einbildung als Wahrnehmung.
Exakt in dem Moment, in dem ich ein Bein auf den Parkplatz gestellt habe, klingelt mein Telefon. Ich zucke zusammen, das macht diese verdammte Stille hier. Dann greife ich in meine Jackentasche und ziehe das Ding heraus, die Nummer auf dem verschmierten Display kann ich nicht zuordnen, auch wenn sie mir vertraut vorkommt. Ich gehe ran.
„Ja, hallo?“
„Hallo Lena, hier Caroline. Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst.“
„Äh … nein, ehrlich gesagt nicht.“
„Wir waren mal zusammen im Kino, du und Paula und ich und noch ein paar Bekannte. Ich bin eine Kollegin von Paula, also ich mach' mit ihr die Ausbildung. Ich hab' deine Nummer von ihr.“
„Ähm okay, jetzt weiß ich wieder.“
(Das ist gelogen. Ich erinnere mich an keine Caroline.)
„Und zwar ruf ich an, weil ich dich fragen wollte, was mit Paula los ist. Sie hätte gestern eigentlich zur Arbeit kommen müssen, war aber nicht da. Und heute ist sie auch nicht gekommen. Der Chef ist ziemlich sauer, sie hat keine Krankmeldung geschickt und geht auch nicht ans Telefon, ich habe es schon ein paar Mal bei ihr versucht.“
Ich weiß nicht, was ich Caroline antworten soll. Mir fällt nichts ein. Ich muss diese Information erst irgendwo einordnen. Wieso geht Paula nicht zur Arbeit?
„Ihr seid doch noch zusammen, du und Paula … oder?“
„Ähm ja, sind wir. Also ich weiß auch nicht, warum sie sich nicht gemeldet hat.“
„Könntest du ihr sagen, dass sie sich unbedingt melden muss. Der Chef ist echt total angepisst, der hat schon zehnmal bei ihr angerufen.“
„Und sie geht überhaupt nicht ans Telefon?“
„Nein, ich habe es auch schon ein paar Mal versucht. Ist alles okay bei euch … also hat Paula irgendwas?“
„Nein, ich glaub' nicht. Ich versuch mal, mit ihr zu reden.“
„Danke Lena. Wirklich alles okay bei euch?“
Es dauert einige Sekunden, bis die Antwort aus mir raus kommt.
„Nein, ist es nicht. Aber das wäre jetzt zu kompliziert. Ich werde mal mit ihr sprechen. Tschüss Caroline, danke dass du angerufen hast.“
„Tschüss Lena, ich dachte nur-“
Sie will noch etwas sagen, aber ich lege auf. Was hat das zu bedeuten? Geht es Paula nicht gut? Schon bin ich über den Parkplatz und beim Eingang. Als ich die schwere Tür aufdrücke, da fällt mir ein, dass ich das Auto nicht abgeschlossen habe. Egal, das Ding klaut keiner.
Ich gehe an den Briefkästen vorbei und bleibe an der Glastür stehen, hinter der das ehemalige Restaurant liegt. Sollte ich mich nicht beeilen, nach oben zu kommen? Vielleicht liegt Paula tot in der … Ach Quatsch! Hör auf, dir was einzubilden, Lena! Sie war gestern schon nicht bei der Arbeit und gestern hast du sie gesehen, mit ihr gesprochen … dich von ihr rauswerfen lassen.
Ich lege mein Ohr an die kalte, von innen mit Zeitungspapier verklebte
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