Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
abweisender. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
„Sie müssen hier raus“, wiederholt Frau Diehl.
„Ja, das weiß ich. Ist Ihre Schwester gefährlich? Kann Sie jemandem etwas tun? Ich habe sie ja angefasst … das war, als ob man einen menschlichen Körper anfasst.“
Frau Diehl schaut mich an. Ein schnelles, ruckartiges Nicken. Dann zum dritten Mal:
„Sie müssen hier ausziehen.“
„Ja, natürlich … bitte, eine letzte Frage noch. Was ist mit dem Gesicht Ihrer Schwester passiert?“
Frau Diehl schaut nach unten. Sie braucht einige Sekunden, bis sie mir antwortet.
„Als Kind … sie ist mit dem Gesicht auf einen Eimer gefallen, auf den Rand von einem Blecheimer, der auf dem Boden gestanden hat. Die Nerven im Gesicht wurden beschädigt und die Medizin war damals noch nicht sehr weit. Seien Sie vorsichtig, junge Frau. Meine Schwester Margarete hat sehr gelitten, sie ist voller Schmerz … sie ist gemein geworden.“
Langsam drückt Frau Diehl den Türspalt zu. Eine allerletzte Frage quetsche ich noch hindurch:
„Warum sind Sie denn nicht von hier weggegangen?“
Frau Diehls Antwort kommt dumpf durch das Holz der alten, dicken Tür:
„Wo soll ich denn hin, ich habe ja sonst niemand auf der Welt.“
***
Ich bin einmal ums Haus gegangen, ich war oben im sechsten Stock, habe mir ein weiteres Mal die getrockneten Insekten und Vogelspinnen angeschaut, dann habe ich unten an der Tür zum Restaurant gelauscht und die Stimmen von Kerstin und Tobias gehört. Es beruhigt mich, dass die beiden da sind. Noch viel mehr Leute sollten da sein, das ganze Haus sollte voller Menschen sein, die Menschensachen machen.
Von Paula keine Spur, oben in der Wohnung haben ihre Schuhe und ihre Jacke gefehlt und auch der verbogene Fahrradständer rechts vom Eingang ist leer. Vielleicht ist sie ja doch zur Arbeit gegangen, vielleicht streitet sie sich gerade mit ihrem idiotischen, rotgesichtigen Chef. Ich rufe Caroline an und frage sie, ob Paula aufgetaucht ist.
„Nein, hier ist sie nicht. Dann hast du sie auch nicht erreicht?“
„Nein, leider nicht“, antworte ich. „Aber ich versuche es weiter.“
„Du kannst ihr sagen, sie soll sich am besten schnell 'ne Krankschreibung besorgen … sonst gibt das richtig Ärger.“
„Ja, mach' ich. Tschüss.“
Die nächsten Stunden verbringe ich auf dem Parkplatz, hungrig und frierend in meinem Auto, den Eingang des Herbsthauses im Blick. Wenn Paula wieder auftaucht, dann muss sie hier durch. Zwar gibt es hinter dem Haus noch einen schmalen Kellerzugang, den Generalschlüssel aber habe ich. Während ich den Eingang beobachte, drehe ich das blanke Stück Metall mit Daumen und Zeigefinger in meiner rechten Hand. Erst fühlt es sich sehr kalt an, langsam aber wird es warm. Erst sind meine Drehungen des Schlüssels ungleichmäßig und ruckartig, dann immer flüssiger.
...
Nichts passiert.
...
Immer noch nichts.
...
Um vier Uhr verlasse ich meinen Posten. Ich laufe nach oben in die Wohnung, mache mir etwas zu essen und gehe aufs Klo. Na, Margarete, wo steckst du? Magst du es, wenn die Menschen schlafen? Stehst du dann neben ihren Betten und schaust auf sie herab, schaust ihnen zu, wie sie sich hin und her wälzen, wie sie unter Alpträumen – unter deinen Alpträumen? – stöhnen und Unverständliches von sich geben? Was soll das, Margarete? Wieso bist du überhaupt noch hier? Vermisst du die Lebenden? Musstest du dich in den letzten Jahren immer weiter aus deinem Zimmer herauswagen, seit in deiner schäbigen Wohnung niemand mehr leben will? Vermisst du die Kinder, die von ihren Eltern gezwungen wurden, in deinem Zimmer zu schlafen und die sich ängstlich in ein Bett legten?
Ich verlasse unsere 65 Quadratmeter zerronnenen Glücks, nehme eine Tüte Rosinen, Wasser und meine Wärmflasche mit. Dann mache ich es mir wieder – so gut es eben geht – im Auto bequem … und warte warte warte. Kurz nach halb sieben kommt der Pflegedienst zu Frau Diehl. Ich lasse mich in den Sitz sinken, mache mich klein, möchte nicht gesehen werden. Nicht dass die junge Frau noch zu mir kommt und mich fragt, was ich da mache.
Kurz nach sieben verlässt die Frau mit dem Pferdeschwanz wieder das Haus, setzt sich in ihr Auto, tippt noch ein paar Minuten auf ihrem Handy und fährt dann, erstaunlich aggressiv, vom Parkplatz. Ich richte mich auf, stelle meine kalten Füße auf die Wärmflasche und beobachte weiter den Eingang.
...
Es geht mir nicht gut, ich habe Magenschmerzen. Vor
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