Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
meinem inneren Auge tanzen Bilder verschiedenfarbiger Magengeschwüre, Bilder, die ich in irgendwelchen Medizinbüchern gesehen habe.
Kurz nach acht sind die Magenschmerzen weg. Dafür befällt mich eine schier unerträgliche Nervosität. Mein Herz rast, die Hände zittern, ich merke, dass mir trotz Kälte der Schweiß ausbricht. Plötzlich ekle ich mich vor der Wärmflasche, vor diesem Gummisack, der immer noch dumpfe, nach Weichmachern stinkende Wärme absondert. Dann, als ich mich gerade wieder mit der Wärmflasche angefreundet habe, ist es mir, als würde sich das Blech um mich herum zusammenziehen, als würde es immer enger hier drin. Ist überhaupt noch genügend Sauerstoff in dem Auto? Ich fühle meinen Puls … 112 und ungleichmäßig … oder bin ich einfach zu zittrig? … Oh Scheiße, ich muss sofort raus hier, mich bewegen, Luft kriegen. Was ist denn jetzt los? Was ist … und ganz plötzlich fügt sich der ganze Müll, der mir durch den Kopf rauscht, zu einer spitzen Gewissheit. Das diffuse, mulmige Gefühl, das ich schon seit Stunden habe, dieser plötzliche Eindruck von Enge, der Ekel, den ich empfinde und den ich nirgendwo einordnen kann, die Angst, die immer wieder hochkommt, mir aber nicht sagen will, wem oder was sie gilt … dieser düstere Klumpen aus Gefühl und Ahnung gerinnt zu der Gewissheit, dass ich nach oben muss, zurück in die Wohnung, dass dort oben etwas passiert, das nicht passieren sollte.
Ich schwinge mich aus dem Wagen, spüre die kalte Luft auf meinen Wangen. Ich laufe zum Eingang, schließe mit zitternden Händen auf. Und schon bin ich an den Briefkästen vorbei und im Treppenhaus. Nach oben, nach oben, nach oben … Tür. Düster und ruhig liegt der Flur vor mir. Immer noch habe ich dieses Gefühl … nein, es ist kein Gefühl, es ist eine fette, schäbige Gewissheit, ich weiß ganz einfach, dass etwas nicht stimmt und dass ich in die Wohnung muss. Ich gehe vorbei am Aufzug, vorbei an dem – die sind gefüllt und kontrolliert! – Feuerlöscher und betrete den runden Flur mit den vielen Türen. Ruhig und friedlich, alles wie gehabt … nur mein Herz schlägt wie verrückt und meine schmalen Schultern beben. Als ich den Schlüssel in unsere Wohnungstür stecken will, da geht er nicht rein. Von innen steckt schon ein Schlüssel.
„PAULA MACH AUF! ICH WEISS, DASS DU DA BIST! MACH DIE SCHEISS TÜR AUF!“
Keine Reaktion, ich brülle weiter. Ich brülle, bis mir der Hals wehtut. Ich brülle, bis sie an die Tür kommt.
Als ich Paulas Gesicht sehe, da erschrecke ich zutiefst. Sie sieht beschissen aus, blass und krank, zerzaustes Haar und glasige Augen. Diese Karikatur meiner Freundin öffnet die Tür nur einen Spalt, aber dieser Spalt reicht, um ihren Schweißgeruch wahrzunehmen. Sie stinkt tatsächlich nach altem Schweiß. Und dann, bevor ich sie fragen kann, was mit ihr los ist, sagt Paula einen Satz, der mich zusammenzucken und nach Luft schnappen lässt. Er trifft mich wie ein Tritt in die Leber.
„Lass uns doch endlich in Ruhe.“
***
Was ich jetzt tue, das ist nur noch zu gewissem Grade absichtliches, bewusstes Handeln. Ich renne tatsächlich mit meinem schmalen Körper gegen die Tür an, die Paula ins Schloss gedrückt und von innen abgeschlossen hat. Ich renne wie in einem beschissenen Action-Film gegen diese verdammte Tür, nur dass diese Tür hier keine Film-Tür ist. Diese Tür hängt hier schon seit Jahrzehnten schwer und zufrieden in ihren Angeln, sie denkt nicht daran, nachzugeben. Eher zertrümmere ich mir an ihr die Schulter, als dass sie bricht.
Fünfmal muss ich gegen das Holz rennen, bis ich die Blödsinnigkeit meines Tuns einsehe. Dann versuche ich, mit meinem Schlüssel ihren Schlüssel aus dem Schloss zu drücken. Verdammte Scheiße, warum geht das nicht? Ich muss da rein! Ich muss sie da irgendwie raus holen. Vielleicht kann ich sie ja tatsächlich an ihren Haaren aus der Wohnung zerren. Menschen entwickeln in Ausnahmesituationen doch besondere Kräfte. Wie ging die Geschichte, die mir Strauss erzählt hat? Ach ja, ein Typ war unter einem Traktor eingeklemmt und ein anderer Typ hat den Traktor angehoben, so dass der erste Typ da raus konnte. Vielleicht könnte ich sie ja wirklich packen und … verdammt! Warum geht das nicht … warum krieg ich diesen blöden Schlüssel nicht da rein?
„PAULA! PAULA! MACH DIE VERDAMMTE TÜR AUF!“
Soll ich die Feuerwehr rufen und denen sagen, dass sie die Tür aufbrechen müssen? Ich könnte ja
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