Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Allerdings klingen viele der Sätze, die dieses Monstrum von Krankenschwester im Laufe einer Schicht sagt, wie Befehle. Diese Stimme passt zum Körper, in dem sie wohnt.
„So, dann mal weiter.”
Schwester Anne stellt ihre Tasse in die Spüle und schiebt sich an mir vorbei aus der engen Kaffeeküche. Ich stehe da mit dem Zettel in der Hand. Fast habe ich den Eindruck, als habe die Krankenschwester gerade irgendeine Pflicht erfüllt: Auftrag ausgeführt und nun zurück zum Arbeitsalltag. Ach, ich denke einfach zu viel nach. Sagt Paula auch immer.
Als ich den Zettel anschaue, den mir Schwester Anne in die Hand gedrückt hat, da habe ich schon wieder das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Ich halte ein mit Zahlen und Buchstaben beschriebenes Stückchen Papier in der Hand und habe ein komisches Gefühl dabei. Scheiße! Was zum Teufel ist los mit mir? Geht mir diese Sache mit Herrn Schlechter doch noch nach? Bin ich plötzlich hypersensibel? Ich stecke den Zettel ein und gehe zurück an meine Arbeit. Die Ablenkung tut mir gut.
***
Heute hat Paula nicht gekocht. Sie hat Nudeln vom Chinesen geholt, die wir vor dem Fernseher essen. Die hohen Pappschachteln sind bis zum oberen Rand gefüllt. Es sieht aus, als hätte der Koch die Nudeln mit Gewalt in die Schachteln gepresst. Man könnte die Nudelblöcke trocknen lassen und daraus eine Mauer bauen.
„Und? Wie war's bei der Arbeit”, fragt Paula mit vollem Mund. Ihre Lippen glänzen vom Fett und von der Sojasoße.
„Och, ganz okay. Mich hat 'ne Krankenschwester angesprochen. Ein Bekannter von ihr hat anscheinend 'ne Wohnung zu vermieten.”
Ich esse weiter. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Paula ihre Stäbchen in die Nudeln gesteckt hat und mich anschaut.
„Ja und? Was ist das für eine Wohnung?”
„Keine Ahnung. Die hat mir nur einen Zettel mit einer Telefonnummer in die Hand gedrückt und mir gesagt, dass ich da mal anrufen soll.”
„Hast du schon angerufen?”
„Nein, hab ich nicht.”
„Und? Rufst du noch an?”
„Ich denke schon.”
„Du bist ja gesprächig heute. Macht echt Spaß mit dir.”
„Tut mir leid, Schatz. War ein langer Tag … außerdem kommt mir die Sache mit dem Bekannten von der Schwester komisch vor.”
„Wieso komisch?”
Ich denke nach, komme aber zu keiner Antwort. Ich merke nur, dass meine Nudeln kalt werden, dass ich nicht esse, sondern das Zeug in der Pappschachtel von einer Seite auf die andere schiebe. Dabei schmeckt es mir.
„Krieg ich vielleicht 'ne Antwort?”
Jetzt klingt Paula gereizt.
„Ich hab' keine Antwort. Ich weiß auch nicht, warum mir die Sache komisch vorkommt. Ich glaube, es liegt an der Art, wie sie mir den Zettel gegeben hat … und wie sie mit mir gesprochen hat. Das war so, als würde sie eine Pflicht erledigen. Die hat sich auch gleich verabschiedet, als ich den Zettel hatte.”
„Vielleicht ist das einfach ihre Art.”
„Ja, kann sein. Ich weiß auch nicht. Ist ja auch egal, ich ruf morgen mal da an, vielleicht ist das ja was für uns. Hast du eigentlich auch mal bei deinen Kollegen gefragt?”
„Ja, hab ich. Hat aber keiner was gewusst”, antwortet Paula und schiebt sich einen Klumpen in den Mund, aus dem eine einzelne Nudel hängt. Mit vollem Mund spricht sie weiter. „Ruf doch erst einmal bei der Nummer an, die du heute bekommen hast. Vielleicht ist das ja wirklich was.”
„Okay, mach ich. Lass uns über was anderes sprechen … oder einfach fernsehen. War echt ein langer Tag.”
„Ja, bei mir auch. Arbeit nervt.”
Mir fällt der Song von Deichkind ein. Ihr auch. Paula grinst mich an und singt „YeahYeahYeahYeahYeahYeah”. Dann beugt sie sich zu mir herüber und gibt mir einen Kuss. Ihre Lippen schmecken nach Sojasoße.
***
Heute Morgen bin ich mit Bauchschmerzen aufgewacht. Vielleicht das chinesische Essen. Als die Krämpfe endlich nachließen, da wurde mir übel. Fast eine Viertelstunde hing ich über der Kloschüssel, der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn, aber es kam nichts. Paula war so lieb zu mir. Sie hat im Krankenhaus angerufen und gesagt, dass ich heute nicht komme. Sie hat mich sogar gefragt, ob sie bei mir bleiben soll, ob sie sich auch krankmelden soll. Das fand ich dann doch übertrieben … außerdem bin ich ganz gerne alleine, wenn ich krank bin. Ich komme mir dann so hässlich vor. Und ja, ich weiß, dass es albern ist.
Es ist kurz nach zehn. Ich sitze an unserem Küchentisch, vor mir dampft der Kamillentee und mein Blick wandert
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