Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
mich jetzt bitte in Ruhe. Lass mich bitte nur eine verdammte Minute in Ruhe. Halt' nur zehn Sekunden lang deine Klappe, damit ich wieder zu mir kommen kann. Ich muss meine Kräfte sammeln, ich bin dabei, mich selbst aus dem Sumpf zu ziehen … und jedes Wort drückt mich ein Stück zurück, in diese weiche, schwammige Masse.
„Jetzt hab' ich Ihnen gar nicht alles gesagt, also was Sie machen müssten.”
„Geben sie mir einen Moment. Es geht gleich wieder. Einen Moment bitte.”
Die Sätze kommen schärfer als beabsichtigt. Brandt hebt die Augenbrauen, geht drei Schritte von mir weg, dreht mir den Rücken zu und zündet sich eine Zigarette an. Ich drücke meine Handflächen in die raue Oberfläche der alten, grauen Hauswand. Der Schmerz tut mir gut, mein Stand wird fester, die Benommenheit vergeht. Einmal tief Luft geholt und den Kopf geschüttelt. Was immer gerade mit mir los war, es ist vorbei. Ich habe mich wieder im Griff. Auf zwei jungen Beinen, die nun wieder mir gehören, gehe ich rüber zu Brandt.
„Tut mir leid, dass ich Sie so angefahren habe. Ich musste mich nur kurz sammeln.”
Er schaut mich an, sagt aber nichts. Ist er beleidigt? Dann sagt er doch etwas. Es kommt ein wenig zögerlich.
„Ja gut ähm … wollen Sie noch irgendwas wissen? Oder müssen Sie jetzt gleich los?”
„Ich muss dann. Danke dass Sie mir alles gezeigt haben. Ich melde mich.”
„Ja gerne. Gute Besserung, junge Frau. Können Sie fahren?”
„Ja, das geht schon.”
Brandt betrachtet mit gesenktem Kopf das, was von seiner Zigarette übrig ist. Jetzt hat er wieder eine mit Filter. Die Goldzähne sind noch da.
„Manchmal ist es ein bisschen unheimlich, da auf den Fluren. Haben Sie Angst gehabt da oben?”
Dieser große, breite Mann kommt mir plötzlich vor wie ein verschüchtertes Kind. Die Frage kam leise und zögerlich, als hätte er sich nicht so recht getraut.
„Nein, kein Angst. Mir war nur komisch. Ich hatte heute Morgen so 'ne Art Magenverstimmung und anscheinend ist das noch nicht ganz ausgestanden.
„Ach so”, sagt er und steckt sich den Zigarettenrest in den Mund.
Ich verabschiede mich, lasse den Hausmeister stehen und gehe zu meinem Auto. Ich glaube, ich kann fahren. Als ich über das unregelmäßige Pflaster des Parkplatzes poltere, sehe ich noch einmal in den Rückspiegel. Herr Brandt steht ruhig da, hat die Arme vor der Brust verschränkt und schaut mir nach. Hoffentlich denkt der jetzt nicht, dass ich einen an der Klatsche habe. Hoffentlich erzählt er diesem Typen … wie hieß er gleich? Ach ja, Egner … hoffentlich erzählt er diesem Egner nicht, dass ich die Falsche bin. Die Wohnung war ja echt gut, wir hätten so viel mehr Platz. Ich biege auf die Georgstraße, sehe mich nach Polizeiautos um, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und rufe Paula an.
Von meiner vorübergehenden Verwirrtheit werde ich ihr nicht erzählen. Sie denkt sowieso, dass ich zu empfindlich bin.
Ein wenig schäme ich mich vor mir selbst. Ich habe es gerade tatsächlich geschafft, mich auf einem runden Flur zu verirren.
Ein neues Zuhause
Noch am selben Abend habe ich Paula die Fotos gezeigt und ihr das Haus beschrieben. Ich habe ihr ausgemalt, wie viel Platz wir hätten. Ich habe ihr von der Eingangshalle mit dem Charme der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt und Vorschläge zur Verwendung des Geldes gemacht, das wir übrig hätten. 200 Euro Miete, das ist so gut wie nichts! Ich habe so dick aufgetragen, dass Paula die Wohnung gar nicht mehr sehen wollte: „Ich vertrau dir, Schatz. Lass uns das machen.” So hat sie es gesagt.
Und dann habe ich Herrn Brandt angerufen und ihm gesagt, dass wir die Wohnung nehmen. Er hat mich gefragt, ob es mir besser geht und ich habe ihm noch einmal das mit der Magenverstimmung erklärt … obwohl ich mir nicht sicher war, dass meine vorübergehende Verwirrtheit tatsächlich damit zu tun hatte. Egal. Abgehakt und weiter.
Herr Brandt hat mit Herrn Egner gesprochen, ich habe auch noch einmal mit Herrn Egner gesprochen und – voilà! – wir haben die Wohnung. In den 200 Euro ist sogar der Strom mit drin … und nicht einmal Kaution müssen wir zahlen! Dafür latsche ich gerne durchs Haus und schaue, ob alle Türen zu sind. Dafür würde ich sogar die Fenster putzen … na ja, das vielleicht doch nicht.
„Scheiße, Lena. Da stehen drei Kartons ohne Beschriftung.”
Bis vor drei Stunden wusste ich nicht, dass Paula einen Beschriftungs-Zwang hat. Sie
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