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Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Titel: Vierter Stock Herbsthaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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die noch leben würden.”
    Sie hält sich die Kadaversammlung direkt vors Gesicht.
    „Mal dran riechen.”
    „Durch das Glas riechst du bestimmt nichts.”
    „Stimmt.” Sie macht ein enttäuschtes Gesicht und hält das Ding wieder von sich weg. Hoffentlich kommt sie nicht auf die Idee, den Kasten mitzunehmen und bei uns übers Bett zu hängen.
    „Vielleicht sind die Viecher was wert. Vielleicht können wir das Ding bei eBay verticken. Da hinten hängt übrigens noch so ein Kasten.”
    „Wenn das teuer wäre, dann hätte man es nicht hier gelassen … wahrscheinlich dürften wir gar nicht in der Wohnung sein.”
    „Jetzt stellt dich nicht so an. Wozu haben wir den Generalschlüssel.”
    Paula sitzt ganz starr da, nur ihre Augen bewegen sich, ihr Blick wandert über die toten Käfer, über Beine, Fühler, Augen, Fresswerkzeuge, Flügel und Chitinpanzer.
    „Weißt du, was echt heftig wäre? Wenn die jetzt anfangen würden, sich zu bewegen. Wenn die alle gleichzeitig mit ihren kleinen, dünnen Beinchen strampeln würden.”
    „Du hast zu viele Gruselfilme gesehen.”
    Paula starrt immer noch in diesen Kasten. Sie ist schnell fasziniert von solchen Dingen. Als ich sie kennen lernte, da hatte sie auf ihrem Schreibtisch ein plastiniertes Schweineherz liegen. Keine Ahnung, wo das hässliche Ding abgeblieben ist.
    „Ich glaube, wenn man die ganz konzentriert anschaut und fest daran denkt, dass sich die Beine bewegen, dann sieht man tatsächlich, dass die sich bewegen. Lass mal ausprobieren!”
    Ich bewege mich keinen Zentimeter. Eigentlich will ich nur raus hier.
    „Jetzt komm schon, sei nicht so scheiß vernünftig.”
    Ich gehe zu Paula, bleibe neben ihr stehen.
    „Jetzt setz' dich hin.”
    „Der ist bestimmt total dreckig, der Fußboden.”
    „Ach Quatsch, jetzt stell dich nicht so an.”
    Sie legt den Kasten auf den Boden und beugt sich über die Insekten. Ich setze mich neben sie und beuge mich ebenfalls nach vorne, will nicht der Spielverderber sein. Wir hocken in einer verlassenen Wohnung auf dem Boden und glotzen tote Insekten an. Also gut, ich versuche mir einzubilden, dass sich die Beine bewegen … ganz fest … noch fester … und dann: nichts. Nur große, tote Käfer mit großen, toten Beinen. Ich denke an etwas anderes, daran, wie wir unsere neue Wohnung einrichten wollen. Vor meinem inneren Auge wogt ein Meer aus Gardinenstoff.
    Nach etwa einer halben Minute wird auch Paula die Sache zu blöd, sie stemmt sich mit den Armen vom Boden hoch.
    „Da bewegt sich überhaupt nichts. Ich geh mal aufs Klo.”
    „Hier?”, frage ich.
    „Klar, wieso denn nicht?”
    „Aber schau' vorher, ob die Spülung geht. Ich weiß nicht, wo überall das Wasser abgestellt ist. Und wahrscheinlich ist überhaupt kein Klopapier da.”
    „Ich schau mal.”
    Paula geht ins Badezimmer, zieht die Tür zu und macht eine Probespülung. Die Lampe hat sie mir dagelassen, über der Badezimmertür ist ein kleines Fenster, durch das etwas Licht kommt. Schranktüren werden geöffnet und wieder zugeschlagen. Dann ihre Stimme:
    „Ha! Klopapier gefunden.”
    „Gratuliere”, antworte ich. „Und danke für die Mitteilung.”
    Ich höre, wie sie mehrere Streifen Klopapier abreißt. Bei manchen Sachen ist sie eigen. Wenn sie sich auf fremde Klobrillen setzen muss, dann legt sie die vorher mit Klopapier aus. Immer noch starre ich die aufgespießten Insekten an. Sie sehen wirklich aus wie lebendig, nicht einmal Staub ist in dem Kasten. Als würden sie gleich die Beine bewegen … aber sie tun es nicht.
    Vor vielen Jahren, wir waren sieben und neun, da saßen ich und mein älterer Bruder einmal nachts vor dem Fernseher. Er hatte mir erzählt, man könne nach Sendeschluss, wenn nur noch Schneegestöber auf dem Schirm war, tote Menschen sehen. Ganz plötzlich würden ihre Gesichter aus dem Gestöber auftauchen, man müsse nur lange genug hinsehen. Bestimmt eine halbe Stunde sahen wir damals in das graue Gegriesel, meine Augen brannten. Ganz plötzlich glaubte ich, tatsächlich ein trauriges Männergesicht zu sehen. Ich schrie auf, rannte ins Kinderzimmer und verkroch mich heulend unter meine Bettdecke. Mein Bruder blieb sitzen und lachte mich aus.
    Das war damals nur Einbildung, natürlich war es nur Einbildung. Wenn man fest genug an etwas denkt, dann erscheint es einem … na ja, zumindest manchmal. Was man sieht, das entsteht im Gehirn, nicht in den Augen. Jeder sieht mal etwas, das nicht da ist.
    Das Rauschen der Spülung, Paula ist

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