Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
fertig. Ich höre die Tür und ihre Schritte, drehe mich aber nicht um, lasse sie von hinten an mich herankommen. Sie wird mir über den Kopf streicheln. Das macht sie immer, wenn sie von hinten an mich herantritt. Und … ja, sie tut es. Zärtlich. Ich bin froh, sie gefunden zu haben. Sie ist der erste Mensch, mit dem ich mir vorstellen kann, alt zu werden. Zwei alte Schachteln im Seniorenheim, einmal die Woche kommen uns die adoptierten Kinder besuchen.
Ich stehe auf, sie setzt sich hin. Wir schauen uns an und müssen lachen. Gerade haben wir die gleiche Bewegung gemacht, nur umgekehrt.
„Ich muss auch mal“, sage ich. „Du kannst ja noch ein bisschen die Insekten anschauen … haben sich übrigens immer noch nicht bewegt.”
Ich gehe ins Badezimmer und schließe die Tür. Es ist dunkel hier drin … zu dunkel. Also schalte ich die Taschenlampen-Funktion meines Handys ein und lege das Ding auf den Waschbeckenrand. Okay, so ist es besser. Ich setze mich aufs Klo und schaue mich um. Zwischen Tür und Waschbecken hängt ein kleines, sauber gerahmtes Stück Papier. Darauf ein eher ungewöhnlicher Klospruch:
Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt.
Drum ist so wohl mir in der Welt.
Über dem gerahmten Stück Papier hängt ein weiterer großer Schaukasten. Es schüttelt mich, als ich sehe, was darin aufgespießt ist: Eine silbern schimmernde Eidechse, umgeben von vier großen, haarigen Vogelspinnen. Es sieht aus, als würden die Spinnen von vier Seiten auf die Echse zukrabbeln, als hätten sie das Tier eingekreist. Wer zum Teufel hängt sich so einen Scheiß aufs Klo? Es sind nicht die Tiere selbst, die mich abstoßen, es ist die Tatsache, dass dieses Tiere tot sind, dass sie sich in einem, wenn auch langsamen, Verwesungsprozess befinden. Am ehesten sieht man es noch an der Eidechse. Ihre Haut ist stumpf und faltig, einzelne Schuppen blättern ab. Das Tier sieht aus, als könne jede Erschütterung des Kastens ein Loch in seinem Körper hinterlassen. Mit einem Finger könnte man dieses Ding zu kleinen Bröseln zerdrücken, man müsste nicht einmal Kraft aufwenden. Hoffentlich kommt Paula nicht wirklich auf die Idee, so einen Kasten mit in unsere …
Plötzlich ein Knall und ein spitzer Schrei. Schnell wische ich mich ab, ziehe mir Slip und Jeans hoch. Was ist denn jetzt passiert?
Paula sitzt auf dem Boden, vor ihr der Schaukasten. Das Glas ist gesplittert, die Scherben liegen auf und zwischen den großen Käfern.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße!”
Ich gehe zu ihr.
„Zeig mal her.”
Sie hat einen Schnitt am Daumen der rechten Hand. Das Blut läuft ihr in die Höhlung der Handfläche.
„Das scheiß Glas ist einfach geplatzt, das ist mir richtig entgegengekommen.”
„Da war wahrscheinlich irgendwie Spannung in dem Rahmen. Jetzt halt doch mal still.”
Ich schaue mir ihre Hand an. Der Schnitt ist etwa einen Zentimeter lang, geht quer über die Unterseite ihres Daumens und scheint tief zu sein.
„Boah, ist das eine Scheiße. Das klappt ja richtig auf. Das geht bestimmt bis auf den Knochen.”
„Jetzt übertreib' mal nicht. Wir gehen runter und dann mach ich dir ein Pflaster drauf.”
Paula schaut mich ungläubig an. Dann starrt sie wieder auf ihren blutenden Finger.
„Ich brauch' kein Pflaster, ich brauch 'ne verdammte Bluttransfusion. Wahrscheinlich muss das genäht werden.”
„Manchmal bis du wirklich 'ne Memme”, antworte ich und helfe ihr hoch. „Komm jetzt.”
Wir gehen nach unten, ich finde meinen kleinen, grünen Verbandskasten und verarzte meine Freundin. Fünf Minuten später wälzen wir uns nackt auf unserem Matratzenlager. Während wir es machen, durchweicht Paulas Blut das Pflaster. Erst färben sich nur die runden, wattigen Stellen, dann kommt es auch durch das Braune.
Heimisch werden
Verdammt, ist das ruhig hier, ein gewaltiger Unterschied zu unserer alten Wohnung. Okay, wenn man das Fenster aufmacht, dann hört man das Rauschen der entfernten Straße, man könnte es aber auch für das gedämpfte Geräusch eines Wasserfalls halten. Aus dem Haus hört man nichts, überhaupt nichts. Regelmäßig kommt der Pflegedienst zu Frau Diehl, das bekommen wir mit. Aber sonst: Totenstille, Grabesstille ... wieso haben alle Begriffe, die völlige Stille bezeichnen, eigentlich mit dem Tod zu tun? Ist die Abwesenheit von Geräuschen etwas so Bedrohliches?
Ich schiebe die dünne Klinge aus dem blauen Kunststoffgehäuse des Teppichmessers und öffne einen der Kartons. Nicht zu
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