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Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)

Titel: Vierter Stock Herbsthaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Susami
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ist mir die Sache dann doch zu unheimlich, so ganz alleine auf diesen runden, leeren Fluren. Mir geht das Erlebnis nicht aus dem Kopf, das ich hatte, als ich das erste Mal mit Herrn Brandt unterwegs war. Ich dachte wirklich, die Tür wäre zu. Ich dachte wirklich, der Gang Richtung Treppenhaus wäre plötzlich verschwunden. Puh, was man sich alles einbildet, wenn man nicht bei Kräften ist.
    Okay … von unten nach oben, wie beim letzten Mal. Ich gehe einmal ums Haus und trage ein, dass alle Fenster in Ordnung sind. Dann laufe ich durch die Eingangshalle, drücke im Vorübergehen den Knopf für den Aufzug – Wieder kommt er, ich traue mich aber nicht hinein. Vielleicht wartet er ja nur darauf, dass ich mich in seine Kabine traue – und gehe dann nacheinander alle Stockwerke durch. Kacke, ich hätte doch die Taschenlampe mitnehmen sollen. Auf vier der sechs Stockwerke ist der Strom abgestellt und das Licht, das durch den Schacht fällt, der zum Innenhof mit den kaputten Pflanzen führt, erhellt die Flure nur gerade so, schwarze Schatten säumen meinen Weg.
    Egal, es ist halb elf Uhr vormittags. Was soll hier schon passieren. Es wird keine Tür auffliegen und kein Monster herausstürmen. Es wird sich auch keine Hand von hinten auf meine Schulter legen … nicht um elf Uhr vormittags, das ist so ziemlich die an wenigsten unheimlichste Zeit des Tages.
    Okay, Pflicht erfüllt, alle Häkchen gemacht, keine besonderen Vorkommnisse, die ich eintragen müsste. Mich reizt es, mit dem Aufzug zu fahren, aber ich lasse es. Ich muss nicht gleich in den ersten Tagen Scheiße bauen.
    Als ich wieder auf der vierten Etage und auf dem Weg zu unserer Wohnung bin, höre ich etwas. Es kommt aus der Wohnung von Frau Diehl, ein kurzes, hart heraus gestoßenes „Ah”, ein Schmerzenslaut. Ist gerade der Pflegedienst bei ihr? Machen die irgendwas mit ihr, das ihr wehtut? Krankengymnastik vielleicht? Dehnübungen? Zäpfchen in den Popo?
    Ich stelle mich an die Tür und lege mein Ohr an das Holz. Nicht dass irgendwas passiert ist. Als ich nichts mehr höre, da klopfe ich an. Was soll's. Wenn mir irgendeine Pflegerin aufmacht, dann kann ich mich auch gleich vorstellen.
    Aber niemand macht mir auch. Stattdessen die Rufe der alten Frau: Hilfe, Hilfe, Hiiilfeee. Es klingt nicht panisch, nicht nach Todesangst. Die Rufe kommen in gleichmäßigem Abstand und sind alle etwa gleich laut. Frau Diehl braucht einfach jemanden, der ihr hilft, sie hofft, dass jemand ihre Rufe hört. Mit dem Generalschlüssel öffne ich die Tür und betrete den dunklen Flur. Ich folge den Rufen ins Wohnzimmer.
    „Ah, junge Frau. Gut dass sie da sind, helfen sie mir mal.”
    Frau Diehl kniet in ihrem Bademantel auf dem Wohnzimmerboden. Sie hat beide Hände an der Kante einer Kommode und versucht, sich nach oben zu ziehen. Aber es geht nicht.
    „Die verflixten Beine wollen nicht mehr.”
    Bevor ich bei ihr bin, versucht sie es noch einmal alleine. Es geht nicht, sie hat nicht genug Kraft. Ihre zerfurchte Stirn ist ganz rot, der Gesichtsausdruck verbissen.
    „JETZT HELFEN SIE MIR DOCH!”, fährt sie mich an. „SIE SEHEN DOCH, DASS ICH ALLEINE NOCH KANN!“
    Ich gehe zu ihr, fasse sie unter den Armen und helfe ihr hoch. Ihr schmaler, ausgemergelter Körper fühlt sich erstaunlich schwer an. Frau Diehl riecht nach Eau de Cologne und ein wenig nach Urin.
    Wortlos, ohne mir ins Gesicht zu blicken, geht die alte Dame zu ihrer Wohnzimmergarnitur, lässt sich langsam und steif in den Sessel sinken und macht den Fernseher an. Ich stehe da und habe keine Ahnung, was ich machen soll. Einfach gehen? Einfach raus hier und hoffen, dass so bald keine Hilferufe mehr aus der Wohnung kommen? Als ich schon fast bei der Tür bin, höre ich die Stimme von Frau Diehl, etwas gepresst, etwas zögerlich.
    „Junge Frau … jetzt bleiben Sie doch.”
    Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Sie hat den Fernseher ausgeschaltet und schaut auf die Fläche des gekachelten Wohnzimmertisches. Plötzlich tut mir die 92jährige leid. Es war ihr peinlich, so gesehen zu werden. Es war ihr peinlich, nicht mehr alleine vom Boden hochzukommen, Hilfe annehmen zu müssen. Das Alter ist eine verdammte Sauerei.
    „Bitte entschuldigen Sie meine Unfreundlichkeit”, sagt Frau Diehl und sieht dabei aus, als würde sie mit dem Tisch sprechen. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?”
    „Nein danke”, sage ich. „Ich muss auch bald zur Arbeit.”
    Sie richtet den Kopf auf und schaut mich direkt an.
    „Danke für Ihre Hilfe.

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