Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
Trinken Sie einen Kaffee?”
Ihre Stimme ist wieder fest, so fest, wie sie mit 92 eben sein kann. Die Frau hat sich wieder im Griff. Aber hinter jedem einzelnen Wort lauert eine Wut, deren Größe ich nicht einschätzen kann. Frau Diehl hasst ihre Hilflosigkeit.
„Nein danke, ich muss wirklich gleich los.”
„Ich habe Kuchen da. Einen Moment bitte.”
Sie drückt einen Knopf an ihrem Fernsehsessel und das Ding macht ein summendes Geräusch. Die Sitzfläche hebt sich, neigt sich dann nach vorne. Frau Diehl schaut starr geradeaus, während ihr elektrischer Sessel sie in eine Position bringt, die ihr das selbstständige Aufstehen ermöglicht. Ihr ernster Gesichtsausdruck gibt der vom albernen Summen der Elektromotoren begleiteten Prozedur eine gewisse Würde. Halb steht sie auf, halb wird sie aufgerichtet, dann tappt sie in ihren zu großen Hausschuhen Richtung Küche.
„Trinken Sie Ihren Kaffee mit Milch oder mit Zucker?”
Hat sie mich gerade nicht gehört. Ich sagte doch, dass ich gleich los muss … was allerdings gelogen war. Ich habe noch rund zwei Stunden.
„Mit Milch.”
„Mit Milch?”
„JA, MIT MILCH.”
Ich höre das Geklapper von Geschirr und eine Minute später steht dampfender Kaffee vor mir. Daneben ein Stück Himbeerkuchen auf einem Teller mit Blütenrand. Frau Diehl hat die Kuchengabel vergessen, auch der Kaffeelöffel fehlt.
„Dankeschön. Trinken Sie keinen Kaffee?”
Ich achte darauf, laut zu reden.
„Nein, jetzt nicht. Wie gefällt Ihnen die Wohnung?”
Ich antworte nicht gleich. Meint sie unsere oder ihre eigene?
„Gefällt mir gut. Ist ja auch sehr geräumig.”
Okay, diese Antwort passt auf jeden Fall. Mir kommt der Gedanke, den Kuchen einfach mit den Händen zu essen.
„Haben Sie sich schon eingerichtet?”
„Noch nicht komplett. Wir sind gerade dabei. Ähm … ich geh' kurz in die Küche, ich hol mir noch eine Gabel.”
„Bleiben Sie sitzen, Sie sind zu Gast.”
Frau Diehl drückt den Knopf an ihrem electric Fernsehsessel, die Elektromotoren singen ihr Lied und zwei Minuten später habe ich meine Gabel. Der Himbeerkuchen schmeckt deutlich gemüsig. Er stand im Kühlschrank und hat den Geschmack von etwas angenommen, das in der Nähe stand. Was kann das sein? Kohlrabi? Während ich brav meinen Himbeer-Gemüse-Kuchen esse, spüre ich Frau Diehls Blicke. Trotz ihres Alters trägt sie keine Brille.
„Und? Fühlen Sie sich wohl in Ihrer neuen Wohnung?”
„Ähm ja, durchaus.”
Und als von ihr nichts kommt:
„Wie lange leben Sie eigentlich schon hier.”
„Seit den späten Vierzigern. Wir sind drei Jahre nach dem Krieg hier eingezogen, meine Mutter, meine Schwester … und meine Wenigkeit. Das war damals eine durchaus ansehnliche Gegend hier. Nicht so verkommen wie heute.”
„Dann wohnen Sie schon über sechzig Jahre hier?”
„Ja. Und wenn man mich lässt, dann werde ich auch die nächsten sechzig Jahre hier wohnen.”
War das ein Witz? Sie rechnet doch wohl kaum damit, 152 zu werden. Aber sie hat das mit den nächsten sechzig Jahren ganz ernst gesagt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll und nehme einen Schluck Kaffee, wie erhofft neutralisiert die Brühe das Gemüsige des Kuchens. Als ich zu Frau Diehl aufschaue, da sieht sie mich an als erwarte sie eine Antwort. Mir fällt nur eine Frage ein.
„Und Ihre Schwester wohnt nicht mehr hier?”
Ein Lächeln huscht über das zerfurchte Gesicht.
„Doch doch, meine Schwester wohnt immer noch hier. Sie ist allerdings vor rund dreißig Jahren verstorben.”
Ich verstehe nicht, was sie meint. Und ich merke, dass ich mir überlege, wie ich hier endlich verschwinden kann. 2/3 des widerlich-interessanten Kuchens habe ich schon geschafft.
„Sie fragen sich sicher, was ich damit sagen will. Nun ja, Menschen gehen nie ganz, etwas bleibt von ihnen … und wenn es nur Bilder und Erinnerungen sind. Sehen Sie diese beiden jungen Frauen dort?”
Frau Diehl zeigt auf ein großes, gerahmtes Bild, das schräg über einem alten Röhrenfernseher hängt. Die Schwarzweißaufnahme zeigt zwei junge Frauen in knielangen Faltenröcken, Ringelshirts und mit hochgesteckten Haaren. Eine deutet eine Verbeugung an, ihr Gesicht liegt halb im Schatten. Die andere schaut herrisch in die Kamera, hat die Arme in die Seiten gestemmt.
„Darf ich vorstellen, ich und meine Schwester. Damals waren wir so alt wie Sie jetzt. Wir sind zusammen aufgetreten, Gesang, Tanz und Schauspiel. Die Diehl-Zwillinge haben sie uns genannt. Und dabei
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