Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
nicht, bei ihr zu klopfen. Noch am gleichen Tag lag der Brief zerknüllt auf dem Flur, ich habe ihn aufgehoben, in kleine Stücke gerissen und weggeworfen … nicht dass Paula ihn findet. Ohnehin ist es momentan schwierig zwischen uns, sie muss nicht noch erfahren, dass ich Ärger mit unserer 92jährigen Nachbarin habe.
Gestern habe ich angefangen, ein handschriftliches Forschungstagebuch zu führen. Ich habe alles eingetragen, was ich über das Herbsthaus und über die paranormalen Phänomene weiß, die hier ihren Ort haben. Was ich sicher weiß, das schreibe ich schwarz. Was ich nur vermute, das trage ich rot ein. Mein Forschungstagebuch – eigentlich nur ein karierter A4-Block mit abgestoßenen Ecken, einer von denen, die aus meiner Schulzeit übrig sind – steckt in dem Lederrucksack, mit dem ich auch zur Uni gehe. Ich nehme den Block nur heraus, wenn ich etwas eintragen will.
Keine besonderen Vorkommnisse, keine besonderen Vorkommnisse … oder etwa doch? Ich weiß es nicht. Ich habe nichts gesehen, kein schwarzes Tier und auch kein kleines Mädchen mit verbundenem Kopf. Ich habe auch nichts gehört, keine Schritte und keine Klopfgeräusche. Auch Alpträume hatte ich seit einigen Nächten nicht. Und doch habe ich immer wieder diese kleinen Momente der Irritation, diese kleinen, hinterhältigen „Hier stimmt etwas nicht”-Momente. Stand dieser Stuhl nicht gerade eben noch einige Zentimeter näher beim Tisch? War die Tür zum Badezimmer nicht gerade eben noch geschlossen? Wieso ist mir plötzlich so kalt? War das nur der Luftzug, der den Duschvorhang bewegt hat? Ich vermute … nein, ich bin mir sicher! Ich bin mir hundert Prozent sicher, dass sich etwas in unserer Nähe aufhält, dass wir beobachtet werden. Manchmal fühle ich es sehr deutlich, dann wieder ist es ganz weit weg, schon fast nicht mehr da … und dann kommt es plötzlich wieder und mir bricht der kalte Schweiß aus. Paula merkt von alldem nichts, vielleicht lässt sie sich auch nur nichts anmerken. Ich traue mich nicht, sie zu fragen … und zugleich würde ich so gerne offen mit ihr reden. Ich habe solche Angst, mich langsam aber sicher in einem Gewirr aus Lügen und Halbwahrheiten zu verheddern, aus dem ich nicht mehr alleine herausfinde. Vielleicht sollte ich wirklich reinen Tisch machen. Aber was, wenn sie mich dann wieder für verrückt hält? Und was, wenn sie sich dann eine weniger Verrückte sucht?
Ich grüble zu viel. Ich sitze da, starre auf eine der noch leeren Seiten meines Forschungstagebuchs und grüble mir Knoten ins Hirn. Schluss damit! Was sind die Optionen? Okay, ich könnte meinen Hintern vom Stuhl heben und den Rundgang durchs Haus machen. Ich könnte auch einen weiteren Versuch starten, Frieden mit Frau Diehl zu schließen. Ich könnte auch (und müsste auch mal) Strauss anrufen. Seit seinem ebenso verzweifelten wie besoffenen Vormittagsanruf haben wir nicht gesprochen. Ich könnte auch … hui Lena, was ist denn mit dir los? Heute morgen 'nen Helden gefrühstückt? … die leere Wohnung erkunden, von der alles auszugehen scheint. Es ist heller Tag, was soll schon passieren? Andererseits … als mich durchs Schlüsselloch dieses Ding angeschaut hat (hat es mich denn angeschaut?), da war es auch hell. Vielleicht spielen Hell und Dunkel gar keine Rolle, vielleicht …
Während ich noch versuche, meine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, bin ich schon auf dem Weg zur Wohnungstür. Hat sich gerade der Staubsauger bewegt? Ruhig, einfach weiter … wie hieß noch dieser große Hund, der Angst vor dem Staubsauger hatte. Ach ja, Lumpi, Lumpi die Dogge … gehörte einer Klassenkameradin. Ein riesiges, ständig sabberndes Vieh, das wie von der Tarantel gebissen aus dem Zimmer rannte, wenn man den Staubsauger einschaltete. Was für ein Feigling! Sechzig Kilo schwer, groß wie ein Pony und Angst vor dem Staubsauger. Moment mal … heißt es nicht „Wie von der Tarantel gestochen?” Stechen oder beißen Taranteln? Und sind Taranteln eigentlich Vogelspinnen … oder gibt es da einen Unterschied? Gibt es auch – hihihi – Vögelspinnen, Spinnen die den ganzen Tag nur …
Während ich meine Angst mit unsinnigen Gedanken zukleistere, öffne ich die Wohnungstür, gehe ich hinaus auf den runden Flur und hinüber zu der Tür, hinter der was-auch-immer lauert. Man muss sich nur gekonnt ablenken, dann geht das schon. Ich stecke (ganz vorsichtig) den Generalschlüssel ins Schloss, drehe (ganz behutsam) herum und drücke (ganz
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