Violas bewegtes Leben
geschickt. Nicht, dass ich seine Erlaubnis dazu bräuchte, aber er hat mir als Erstes davon erzählt und ich wollte, dass er vor allen anderen erfährt – vor Andrew, Caitlin und meinen Eltern –, dass ich teilnehme.
»Ich habe eine etwas seltsame Idee. Ich überlege noch, ob es wirklich ein gutes Thema ist. Im Jahr 1925 ist ein Flugzeug auf dem Gelände der Prefect Academy abgestürzt.«
»Okay …« Er hört zu.
»An Bord war eine junge Schauspielerin, die kurz davor stand, ein berühmter Filmstar zu werden, wie Bette Davis oder Joan Crawford oder Myrna Loy. Aber das Flugzeug stürzte ab und sie starb, ehe sie den Durchbruch schaffte und ein Star werden konnte.«
»Und was ist die Geschichte?«
» Das ist die Geschichte. Ihre Geschichte.«
»Nein, nein …« Jared lächelt. »Ich meine, wie willst du an die Geschichte rangehen?«
»Ich bin noch nicht sicher.« Der Schnee knirscht unter meinen Schuhen, während ich von einem Bein auf das andere trete.
»Du musst ja noch nicht auf alle Fragen eine Antwort haben«, sagt Jared. »Aber erzähl mir mehr von der Schauspielerin.«
»Okay, also, als ich an Thanksgiving bei Suzanne in Chicago war, sind wir mit ihrer Mutter ins Art Institute gegangen. Da war eine Ausstellung über Leute aus dem Mittleren Westen, die mit der amerikanischen Filmindustrie zu tun hatten. Ich habe mir die Ausstellung angeschaut und dabei das Bild dieser Schauspielerin entdeckt, die bei dem Absturz ums Leben kam. Sie hieß May McGlynn. Mir kam es wie eine Ironie der Geschichte vor, dass sie dort starb, wo ich zur Schule gehe.« Ich erwähne lieber nicht, dass ich glaube, von ihrem Geist heimgesucht zu werden. Schließlich treffen wir uns heute erst zum zweiten Mal.
»Das klingt wie ein Anfang.« Jared vergräbt die Hände in den Taschen. »Weißt du, ich finde, die Geschichte ist das wichtigste. Was willst du mit deinem Film erzählen? Und warum? Die Antworten auf diese Fragen solltest du kennen, bevor du anfängst, die Geschichte in Szenen zu unterteilen und das Drehbuch zu schreiben.«
Ich halte das Buch von Sidney Lumet in die Höhe. »Finde ich die Antworten hier?«
Er lacht. »Ein paar bestimmt.«
»Na, dann rate, was ich heute Nacht machen werde, anstatt zu schlafen?«
Jareds Herangehensweise an das Filmemachen ist völlig anders als meine. Ich habe das Filmemachen von meinen Eltern gelernt, die als Dokumentarfilmer arbeiten. Sie planen nicht voraus, sie tauchen in eine fremde Welt ein und finden die Geschichte oft erst, nachdem sie Stunden an Material gefilmt haben. Das ist einfach ihr Stil: so viel wie möglich zu einem Thema zu filmen und beim Schneiden des Materials den roten Faden zu entwickeln. Jared hat einen völlig anderen Ansatz: Man wählt ein Thema, entwickelt eine Geschichte und nimmt dann erst die Kamera zur Hand.
Der Bus von der GSA fährt als Erstes an der Haltestelle vor. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich möchte nicht, dass dieser Abend zu Ende geht. SMS sind okay und chatten macht Spaß, aber ich mag es einfach, mit Jared zusammen zu sein – nur wir beide. Und zu reden. Ich frage mich, ob er ebenso empfindet.
Jared dreht sich zum Bus. »Weißt du, ich wünschte, wir hätten mehr Zeit«, sagt er, als würde er meine Gedanken lesen.
»Ich weiß. Ich auch.« Ich schaue über die Schneehaufen hinweg. Auf einmal kommt mir alles so hoffnungslos vor – der Frühling wird niemals kommen, und Jared und ich werden nie genug Zeit haben, uns zu treffen und kennenzulernen.
»Na ja, dann wird das eben reichen müssen«, sagt er. Er beugt sich vor und küsst mich. Diesmal gelingt es mir, den Kuss wirklich zu genießen, weil ich besser vorbereitet bin und es erwartet habe. Ich halte meine Augen noch ein paar Sekunden länger geschlossen. Dann verabschieden wir uns voneinander.
Ich öffne die Augen.
Mein vierter Kuss, diesmal an einer Bushaltestelle des Saint Mary’s College in South Bend, Indiana, kurz nach einemSchneesturm. Ich nehme den Kuss und füge ihn den drei vorherigen hinzu. Klar zähle ich! Vier Küsse, einmal Händchen halten, ein riesiger Schokoladenkeks und ein Sidney-Lumet-Buch. Ich glaube, Jared und ich sind wirklich ein Paar. Jared winkt mir vom Fenster aus zu, während der Bus losfährt.
Der Kleinbus der PA fährt vor. Ich steige ein, mein Buch in der Hand.
»Was hast du da?«, fragt Trish, während sie hinter mir die Stufen hochhüpft.
»Ein Buch von Sidney Lumet über das Filmemachen.«
»Coo«, sagt sie.
Ich habe mir ein paar wenige
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