Violas bewegtes Leben
den Seitengang zur dritten Reihe. »Sind die Plätze hier okay?« Nur rund dreißig der dreizehnhundert Sitzplätze sind besetzt.
»Klar.« Nachdem wir uns aus unseren Mänteln und Handschuhen geschält haben, setzen wir uns und schauen Wendy Luck, einer Flötistin/Sängerin/Schauspielerin dabei zu, wie siedie Geschichte ihrer russisch-jüdischen Vorfahren auf der Bühne lebendig werden lässt.
Als die Lichter ausgehen, nimmt Jared meine Hand. Ich genieße die Wärme seiner Berührung und den süßen Geschmack des Kekses. Am liebsten würde ich die Augen schließen und mit einem tiefen Gefühl von Glückseligkeit in den Schlaf sinken. Aber das tue ich natürlich nicht. Ich möchte jede Sekunde meines Dates hellwach erleben. Ich möchte mich an jede Einzelheit erinnern, den Geruch seines Hemds und den Duft seiner Haut nach Zitrone und einem Hauch von Zeder. Genau richtig. Perfekt.
Auf dem Weg hierher hatte ich Sorge, Jareds Gefühle könnten sich geändert haben. Was, wenn er nicht käme? Und wenn er da wäre – was, wenn er sich ganz distanziert verhalten würde und entschieden hätte, ich wäre gar nicht so, wie er mich von der Party in Erinnerung hatte, und wenn er dann das tun würde, was alle Jungs irgendwann zu tun scheinen: seine Wahl nachträglich bereuen und mich sofort fallen lassen und jemand neues finden, der besser zu dem Bild in seinem Kopf passt?
Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, immer wieder, wie ein Junge zuerst interessiert tut und dann, so wie die ersten Schneeflocken im Dezember träge und unberechenbar durch die Luft wirbeln, sämtliche Logik über Bord wirft und das Mädchen keine Ahnung hat, woran sie ist. Jared Spencer jedoch gehört, wie ich feststelle, nicht zu diesen Jungen.
Wendy Lucks Vorstellung ist gut. Sehr tiefgründig. Sie würde gut auf eine der kleinen Bühnen im East Village von Manhattan passen. Sie ist wunderschön, mit klaren blauen Augen und einer kräftigen Singstimme. Und sie kann gut erzählen, und dieGeschichte der langen Reise ihrer Großmutter von Minsk nach Milwaukee ist wirklich faszinierend.
Nach der Vorstellung bedeutet Trish mir mit einer Geste, dass ich in ein paar Minuten an der Bushaltestelle sein soll. Zum Glück ist Trish so taktvoll, ein Date nicht zu stören.
Wir gehen ins Foyer und lassen uns von Wendy Luck unsere Programmhefte signieren. Sie schreibt: Für den süßesten Jungen in Milwaukee für Jared und Ich mag deine Mütze für mich.
Vor dem Theater unterhält sich Trish mit dem Mädchen, das die Aufführung organisiert hat. So habe ich noch ein bisschen Zeit mit Jared.
Er begleitet mich zur Bushaltestelle und hakt sich bei mir unter. Ich lehne mich an ihn, während wir dem geräumten Pfad folgen. Wir setzen unsere Schritte ganz vorsichtig, nicht weil es glatt ist, sondern weil wir diese Nacht so verlangsamen wollen, bis sie nur noch dahinkriecht, um möglichst viel gemeinsame Zeit hineinzupressen. Wenigstens hoffe ich, dass es so ist, denn so fühlt es sich an.
»Das war eine tolle Aufführung. Danke, dass du dir das ausgedacht hast«, sagt er.
»Danke für den Keks.«
Er lächelt mich an und mein Herz schlägt unglaublich schnell und laut, wie eine Trommel in einem leeren Theater. Ich fürchte, es könnte zu laut sein, aber zum Glück übertönt der ferne Motor einer Schneefräse alle seltsamen Geräusche, die von mir kommen könnten.
An der Bushaltestelle greift Jared in seinen Rucksack. »Das hier habe ich für dich ausgesucht.« Er gibt mir ein Taschenbuch mit dem Titel Filme machen von Sidney Lumet. »Ich weiß nicht, ob du es schon hast.«
»Nein. Aber ich liebe Sidney Lumet«, sage ich. »Niemand porträtiert New York im Film besser als er.« Ich drücke das Buch an mich. Mein erstes Buch von Jared Spencer und mein zweites Geschenk – nach dem Keks.
»Es gehört zu den besten Büchern, die es über das Filmemachen gibt«, sagt er.
»Danke.« Ich werde rot, weil er tatsächlich an mich gedacht und mir ein Buch über unsere gemeinsame Leidenschaft, das Filmemachen, gekauft hat. Er denkt bestimmt, das liegt an der Kälte, aber ich weiß, dass es von meinen warmen Gefühlen für ihn kommt. »Wie läuft die Planung für deinen Film?«, frage ich ihn.
»Es sieht ganz gut aus. Ein Bauer in Goshen, Indiana, der eine ökologische Landwirtschaft betreibt, lässt mich auf seinem Hof filmen. Und bei dir?«
Nachdem meine Mitbewohnerinnen mich überredet hatten, selbst an dem Wettbewerb teilzunehmen, habe ich Jared sofort eine Mail
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