Violas bewegtes Leben
wie Stummfilmstars.
Ich trete hinter meiner Kamera hervor. Ich bin nicht nur die Kamerafrau, sondern auch Regisseurin und Drehbuchautorin des Films und deshalb für alles zuständig. »Ihr seht toll aus«, sage ich zu ihnen. Meine Schauspieler atmen aus, erleichtert, dass ich mit ihnen zufrieden bin.
Ich stecke meine Hände in die Hosentaschen und marschiere vor der Bühne auf und ab.
»Gut, es geht darum, dass ihr den Tag am Set nachspielt, an dem ihr die Nachricht bekommt, dass May McGlynn mit einem Flugzeug abgestürzt ist. Ihr spielt direkt in die Kamera hinein und zeigt, wie ihr auf ihren Tod reagiert. Also, die Vorgeschichte ist die: Du, George, bist ihr Geliebter und erfährst nun von ihrem Tod, und du, Grand, spielst Mays Mentorin. Du bist diejenige, die ihr alles über das Filmbusiness beibrachte, die ihr half, eine Wohnung zu finden und so. Dazu noch Fragen?«
Sie schütteln die Köpfe. Wir haben das alles schon ein paarmal besprochen und sind noch einmal gemeinsam den Ablaufplan durchgegangen, ehe sich die beiden in die Garderobe zum Schminken zurückgezogen haben. George und Grand sind schnell von Begriff.
»Also, ich habe nur eine Kamera, deshalb filmen wir zuerst die Szenen mit wenig Bewegung, dann nehme ich sie vom Stativ und arbeite mit Handkamera. Das hat man zwar damals nicht so gemacht, aber es macht die Aufnahmen intimer und wirkungsvoller.«
»Und was soll ich tun?«, fragt Marisol.
»Ich hätte gerne, dass du jeden Punkt auf dem Ablaufplan abhakst, während ich filme, damit wir wissen, dass wir haben und was wir noch brauchen, bevor wir ins Wohnheim gehen und den Kommentar aufnehmen.«
»Kein Problem.« Marisol nimmt das Skript und setzt sich neben die Kamera.
Sie hat Tränen in den Augen, während sie die Szene verfolgt. Auch ich bin bewegt von der Wirkung dieser stummen Emotionen. George und Grand kommunizieren alles, ohne ein Wort zu sprechen, mit gefühlvoller Mimik und Gestik, genau wie die großen Stummfilmschauspieler damals.
Ich filme die Szene mehrmals, von verschiedenen Perspektiven aus – einmal aus Grands Blickwinkel, dann aus Georges. Dann tue ich etwas, was gar nicht geplant war: Ich bitte sie, die Position zu halten, nachdem sie die Nachricht von Mays Flugzeugabsturz erfahren haben, nehme die Kamera vom Stativ, das Objektiv auf die Bühne gerichtet, und gehe rückwärts in das dunkle Theater.
Irgendwas veranlasst mich, diese intime Szene in einer Totalen einzufangen. Die Tiefe des Raumes, der von ganz hinten aus gefilmt wird, macht das Bild weit und fängt die Einsamkeit ihres Verlusts durch die Ferne und Stille sehr schön ein.
Der Lichtstrahl des einzigen Scheinwerfers durchdringt das diffuse Licht der Bühnenbeleuchtung. George, der vor Kummer auf die Knie gesunken ist, beugt sich so weit vor, dass er wie ein kleines Kind aussieht. Grand hat ihm die Hand auf den Rücken gelegt; fast sieht es so aus, als führe sie ihn zu der traurigen Wahrheit hin. Lange Zeit verharren sie in dieser Pose.
»Schnitt!«, rufe ich schließlich.
George erhebt sich aus seiner knienden Position, und Grand schüttelt ihre Beine aus. »Willst du uns umbringen, Viola?«, schreit sie.
»War es gut so?«, fragt George.
»Perfekt«, brülle ich.
Ich bin voller Energie, als ich nach unserem Drehtag zurück in mein Zimmer komme. Ich habe die Aufnahmen bereits in mein Schnittprogramm geladen. Marisol schläft schon, erschöpft von den anstrengenden Dreharbeiten. Ich schicke Jared eine SMS.
Ich: Habe heute meine ersten Szenen gedreht. Die Vorgeschichte.
JS: Du bist unglaublich.
Ich: Ist gut geworden. Hatte aber zwei Profis dabei. Grand und ihren Freund George.
JS: Du hast mich schon vor dem Start überholt.
Ich: War einfach froh, in den Ferien was zu tun zu haben.
JS: Das neue Baby schreit die ganze Nacht.
Ich: Kein Schlaf?
JS: Keine Minute. Aber sie ist süß.
Ich: Klar. Ist ja deine Schwester.
JS: LOL.
Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück. Vielleicht liegt es an dem Hochgefühl, das ich nach dem langen Drehtag in mir spüre, vielleicht ist es auch ein Rest von Weihnachtsstimmung, aber ich vermisse meinen Freund und ich will, dass er das weiß.
Ich: Ich vermisse dich.
Die Sekunden, die es dauert, bis seine Antwort eintrifft, kommen mir wie zehn Jahre vor. Endlich:
JS: Ich vermisse dich auch. Du bist wunderschön.
Ich schaue auf das Wort wunderschön und wünsche mir einen Moment lang, es wäre nicht 2009, sondern 1809, und das Wort wunderschön
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