Violas bewegtes Leben
Gegenpart spielen, und ich könnte ihre Freundin sein, und wir könnten ein oder zwei Szenen ihres letzten Filmprojekts improvisieren …«
Auf einmal begreife ich und platze heraus: »Und ich könnte euch in Schwarz-Weiß filmen, und wir könnten einen Hintergrundkommentar darüberlegen, darüber wie dieser Film ihrer Karriere Auftrieb verleihen sollte und dass Mays Durchbruch endlich kurz bevorstand. Sie fing gerade an, etwas mit ihrer Arbeit auszusagen, tiefgründigere Rollen zu spielen.«
»Genau, genau!« Grand sieht genau, was ich sehe.
»Und dann …«, denke ich laut weiter, »sollte es doch nicht sein. Ihr Traum starb mit ihr. Und nach ihrem Tod wurde sie nur noch als junges und schönes Starlet wahrgenommen, das immer nur Party machte und trank.«
»So ist es. Wäre May McGlynn am Leben geblieben, wäre sie heute eine der großen Diven der Dreißigerjahre – nicht Bette Davis oder Myrna Loy, sondern May McGlynn!«
»Bist du dabei, George?«, frage ich.
»Klingt gut.« Er zuckt mit den Schultern.
»Okay. Ich entwerfe das Storyboard, und morgen früh fangen wir an zu drehen.«
Es gibt nichts, was ein Künstler mehr braucht als einen festen Abgabetermin. Das ist sogar noch wichtiger als gutes Material und Durchhaltevermögen.
Und so sitze ich an meinem Computer und hämmere in die Tasten, um mit Worten – nicht gerade meine bevorzugte Ausdrucksform, doch in diesem Fall absolut notwendig – Augenblick für Augenblick und Szene für Szene darzulegen, wie ich vor meinem inneren Auge den Ablauf von May McGlynns Geschichte sehe.
Marisol beobachtet mich vom Bett aus, während sie mit Kopfhörer Musik hört. Es stört mich nicht mal, dass sie ab und an ein lautes »Whoo Whoo« mit Gwen Stefani mitsingt. Sie ertappt sich selbst dabei, schaut mich an, formt mit dem Mund ein tonloses »Entschuldigung« und verstummt.
Ich finde es beruhigend, eine Zeugin zu haben, während ich an dem Filmskript arbeite. Dieser Film treibt mich mittlerweile mit einer Intensität an, die ich seit September, als mich meine Eltern hierherbrachten, nicht mehr gespürt habe. Damals ging all meine Energie dafür drauf, irgendwie einen Weg zurück nach Hause zu finden, und jetzt geht alles, was ich bin, alles, was ich weiß, alles, was ich sagen will, in diesem Film auf, darin, meine Geschichte auf die richtige Art und Weise zu erzählen. Ich bin getrieben von dem Wunsch, etwas wirklich Gutes zustande zu bringen. Und wenn mir das gelungen ist, dann möchte ich diesen Wettbewerb gewinnen .
»Geht’s dir gut?«, fragt Marisol.
»Besser denn je«, sage ich entschieden.
Das Theater im Hojo-Bau steht für Schulversammlungen, Theateraufführungen und Fakultätstreffen zur Verfügung. Es ist ein schmuckloser Saal mit schwarzen Klappsitzen aus Holz und einer Guckkastenbühne mit schwarzen Samtvorhängen, die an die hintere Bühnenwand diffuse Schatten werfen. Es ist schlicht und groß, genau das, was ich brauche, um ein altes Hollywood-Filmset zu imitieren.
Ich befestige meine Canon XH A1 auf einem Stativ. Grand und George sind unten in der Maske. Wir haben uns alte Fotos von Rudolph-Valentino-Filmen angeschaut, und ich bat sie, sich einfach was auszudenken. George trägt einen Smoking aus dem Kostümfundus, und Grand hat ein schwarzes Abendkleid mit Spitzenborte ausgesucht, dazu lange Handschuhe bis zum Ellenbogen und eine kurze Zwanzigerjahre-Perücke mit dickem Pony und zwei Schmachtlocken. Sie haben viel gelacht, als sie die alten Kostüme anprobierten.
Ich prüfe die Beleuchtung. Grand und George werden den Kommentar später sprechen, zu den Bildern am PC, sodass ich mir beim Filmen um den Ton keine Gedanken machen muss.
Marisol ruft von den Kulissen herüber: »Die Schauspieler sind bereit.«
»Aufstellung, bitte«, sage ich zu ihnen und stelle das Objektiv meiner Kamera scharf.
George schreitet über die Bühne. Im Scheinwerferlicht erwacht er richtig zum Leben, und ich verstehe sofort, warum Grand sich in ihn verliebt hat. Dann betritt Grand die Szene. Sie geht über die Bühne und sieht dabei grazil, geschmeidig und sehr schlank aus. Grand und George benehmen sich auf der Bühne ebenso ehrfürchtig wie Gevatter Zeit an Weihnachten in seiner Kapelle.
Beide haben ein blassgelbes Pudermake-up als Grundierung aufgetragen und dazu die Augen und den Mund mit schwarzem Eyeliner und bräunlichem Lippenstift übertrieben betont. Ich schaue durch das Objektiv und prüfe ihr Make-up im Scheinwerferlicht. Sie sehen wirklich aus
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