Violett ist nicht das Ende
weihen Sie Ihre Familie ein. Das Leben ist zu kurz für Versteckspiele. Sie lieben Ihre Familie, Ihre Familie liebt Sie. Spielen Sie mit offenen Karten.«
»Es geht aber nicht, Herrgott!« Jules Faust krachte auf die Tischplatte. »Tschuldigung. Ich meine, ich kann mich nicht vor denen outen. Ey, ich wette, selbst wenn ich in jeden meiner Sätze den Namen Ewa packen würde, bekomme trotzdem nur ich eine Einladung zum 60. meiner Mutter. Und da sitze ich dann am Single-Tisch und die karren mir einen ledigen Dorfdeppen nach dem anderen an, nur damit ich wieder hetero werde.«
»Gut.«
Jule riss die Augen auf. »Wie bitte?«
»Ich kann Ihre Eltern da sehr gut verstehen. Nur Sie anscheinend nicht.«
»Ne. Ich meine, was soll die Scheiße?« Rums, erneuter Fausthieb. »Tschuldigung, Frau Bogacz, aber … Jahrelang hatte ich einen festen Freund, wie gesagt, und jetzt eben Ewa. Ich hab mich doch nicht mit Absicht in eine Frau verliebt. Trotzdem werden die eher heulen statt sich einfach mal zu freuen, für mich.«
»Jule, dann hören Sie zu, wie ich die Sache sehe. Aus der Mutter-Perspektive, ja?«
»Okay.«
Mama Bogacz atmete tief durch. »Ich erfahre, dass meine erwachsene Tochter, die ich sehr liebe, auf einmal lesbisch ist. Grundsätzlich bin ich ein toleranter Mensch. Ich habe nichts gegen Homosexualität, aber in diesem Fall bin ich nicht begeistert. Erstens: Ich kann damit nichts anfangen. Ich bin ganz klassisch verheiratet, habe Kinder und lebe mit einem Mann an meiner Seite. Lesbisch, tja. Das sind Gefühle, die ich nicht habe. Das ist eine Welt, die ich nicht kenne, eine Beziehungsform, die ich nicht lebe. Somit fallen Erfahrungen weg, die ich mit meinem Kind teilen kann und es gibt auf einmal Dinge, von denen ich keinerlei Ahnung habe. Das gefällt mir nicht, das macht mir Angst. Ich will nicht, dass mir meine eigene Tochter fremd wird. Deshalb werde ich immer geneigt sein, ihr da noch mal reinzuquatschen. Sehr egoistisch, zugegeben.«
Jule nickte.
»Zweitens: Es ist in unserer Gesellschaft nicht normal. Mann-Frau-Paare sind die Regel, überall akzeptiert, und sie haben die Gesetze auf ihrer Seite, immer schon. Als liebende Mutter wünsche ich meiner Tochter das sorgenfreieste Leben, ohne Steine im Weg. Deshalb schmerzt die Vorstellung, dass meine Ewka in Zukunft kämpfen muss, weil sie in der Liebe eben nicht den gängigen Weg einschlägt und angreifbar wird. Mütter wollen ihre Kinder schützen, Jule. Ur-Instinkt. Und so finde ich es nur allzu verständlich, dass Eltern eher schreien Hilfe-mein-Kind-ist-lesbisch und nicht Juhu-sie-ist-homosexuell-wie-schön.«
Wieder nickte Jule.
»Drittens: Für die eigenen Kinder hat man Visionen im Kopf. Welcher Beruf zu ihnen passt und welcher Partner. Es macht keinen Sinn, natürlich, aber es passiert ganz automatisch. Offenbar hat Ihr Ex-Freund genau diesen Vorstellungen Ihrer Eltern entsprochen, Jule. Darum klammern sie sich an dieses vertraute Bild. Doch Sie haben es ihnen genommen und wenn Sie jetzt eine Frau präsentieren, dann zerstören Sie die komplette Vision.«
»Schon, aber …«
»Verstehen Sie mich richtig: Es ist Ihr gutes Recht. Es ist Ihr Leben und Sie sollten nichts tun, nur um es Ihren Eltern recht zu machen. Aber behalten Sie meine Worte bitte im Hinterkopf. Wenn Sie sich outen vor Ihrer Familie, geht erst einmal etwas zu Bruch, zwangsläufig. Danach müssen neue Bilder entstehen und reifen. Das braucht Zeit und die müssen Sie Ihren Eltern geben, Jule. Zeit, um die neuen Bilder genauso schön zu finden wie die alten.«
»Gecheckt.«
»Gut.« Mama Bogacz wirkte irgendwie erleichtert nach ihrem Monolog und nahm einen Schluck Tee. »Jule, gehen Sie die Sache an, auch bei Gegenwind. Wir Eltern sind nun mal keine Fans von Homosexualität, wenn sie unsere eigenen Kinder betrifft. Aber wir brauchen eine Chance. Wenn Sie diese Ihren Eltern verweigern, wenn Sie sich zurückziehen und Heimlichkeiten leben, Lügen erfinden, wird Sie das auf Dauer mürbe machen. Es wird Ihre Beziehung belasten und Sie werden Ihre Familie verlieren, weil Sie dort durch Ihr Versteckspiel keine Bezugspersonen mehr haben, mit der Sie wirklich über alles reden können im Ernstfall.«
»Na ja, mein Bruder ist schon so einer, der …«
»Jule, das reicht nicht«, sagte Mama Bogacz. »Schauspieler sind immer allein im Rampenlicht. Sie wissen, wie viel Kraft das kostet. Sie benötigen eine sichere, liebende Basis, Ihre Familie und Sie haben meine Ewka, das ist Ihr
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