Violette Bescherung
Flurboden und war mit ihm unterm Arm aus der Wohnung gestürzt. Hepp-hepp-hepp, drei Stufen pro Schritt die Treppen hinab, schlingernde Drehungen in jeder Kurve und einen Beinahe-Bauchklatscher über eine Fußmatte, ehe sie den Kleinen zum Pinkeln in die Freiheit geschubst hatte. Puh. Verglichen damit war ein Marathon Morgengymnastik. Doch der Hund schien im Glück, schnupperte sich weiter zu den Mülltonnen und setzte an zur nächsten Pfütze.
» Mensch, Kleiner, ey. Was drückt denn alles?« Jule stöhnte. »Kannst du nicht wie jeder normale Hund winseln, wenn du musst? So als Vorwarnung?« Der Kleine hob den Kopf und spielte Unschuldslamm. Bedeutete das nun gebongt, Deal für die Zukunft? Oder verstand der polnische Fiffi noch immer kein Deutsch?
»Kakjätschkx«, rief Jule mit drohendem Unterton.
»Soll heißen?«, hörte sie Ewas amüsierte Stimme hinter sich.
»Kack jetzt. Hab’s eingepolnischt und ich finde, rein akustisch klingt es verdammt richtig dicht dran.«
»Du bist süß.« Ewa legte ihr einen dunklen Kapuzenpulli um die Schultern. »Hier. Zieh an. Achtung, dein iPhone steckt in der Bauchtasche.«
»Äh … danke? Aber kalt ist mir nicht.«
»Noch nicht.«
»Das bedeutet?«
»Ich habe den Teig fix alleine fertiggeknetet, damit er noch eine Stunde ruhen kann im Kühlschrank. Solange können wir …«
»Lass mich raten: einen neuen Baum holen?«, kombinierte Jule.
Ewa nickte, zog sich eine Kapuzenjacke über und schnallte den schwanzwedelnden Kleinen an die Leine. Aha. Interessanter Plan, der bei genauerer Betrachtung irgendwie noch keiner war. Zu viele offene Fragen wirbelten durch Jules Hirn, als sie in den Pulli schlüpfte, der verführerisch nach Ewa roch. Kurze Schnuppersekunde, Ewa-Meer, hach, herrlich.
»Können wir?« Wartend streckte ihr Ewa eine Hand entgegen.
»Gern, nur … Süße, wie läuft das jetzt? Such, Kleiner, such die Tanne? Und die nieten wir dann um mit iPhone und Kettensägen-App oder wie? Oder schwärzen wir unsere Gesichter, passend zur Kapuze, weil wir gleich in einen Baumarkt einsteigen oder …« Jule verstummte. Viel zu deutlich stand da die Unsicherheit in Ewas Miene. Geknickt kickte der Zwerg Kiesel in die Nacht. Autsch. Batman schwächelte und musste eine Runde auf Robins Arm.
»Ewa, aber …« Jule griff nach Ewas Hand und drückte sie sanft.
»Wir brauchen doch wenigstens einen Ansatzpunkt, meinetwegen auch eine Vision, wie und wo wir jetzt eine Tanne herkriegen, im Mai. Meinst du nicht?«
»Ich habe keine Idee.«
»Aber das ist doch doof.«
»Schon klar.« Ewas Blick glitt zu einer Straßenlaterne, in deren Schein die Motten wie blöde tobten. »In meinem Kopf sehe ich gerade überall Tannen.«
Dem konnte Jule nur zustimmen. In ihrer Fantasie verwandelte sich der nahegelegene Park zum Nadelwald. Grüne Zweige ragten aus Mülltonnen und schmückten urplötzlich alle Balkone im Kiez. Hatte der Italiener vorne nicht immer Dekotöpfe neben dem Eingang, mit niedlichen Zwergtannen drin? Oder waren das angespitzte Buchsbäume? Mist. Jule wünschte sich Knut herbei – den Schlussverkauf aus der IKEA-Werbung, in der es Tannen im Sekundentakt auf die Straße regnete. Plopp, und man stolperte zwangsläufig drüber und packte sich längs. Schöner Wunschtraum.
»Park?«, schlug sie vor und zog Ewa nach links.
»Park ist raus.« Ewa stoppte. »Da stoßen wir auf Micha.«
Jule überlegte einen Moment. »Perfekt. Der ist dicht. In diesem Zustand müssten wir Bubi und seinen Trupp locker eingelullt kriegen. Ein heißer Augenaufschlag, und die reißen Bäume aus. Fällt unter Schwanzvergleich. Auf dem Oktoberfest drischt dir jeder Kerl nach drei Maß Bier auf ›Hau den Lukas‹, um dir zu demonstrieren, wie groß sein …«
»Jule«, fiel Ewa ihr ins Wort. »Ich habe mich vorhin bei Micha für den WG-Baum bedankt. Wenn ich nun vor seinen Augen eine neue Tanne suche, trifft ihn das bestimmt.«
»Na und? Lass Bubi heulen. Wir wollen doch nichts von dem.«
»Irgendwann mit Sicherheit.«
»Bitte?« Jule stemmte ihre Arme in die Hüften. »Wie darf ich das jetzt verstehen, Bogacz? Sondierst du im dritten Stock schon Optionen, falls ich mal Migräne habe oder …«
»Spinn nicht rum.« Ewa schnaubte kurz. »Im Leben kommt immer der Moment: Bier alle, Tanke zu. Und dann?«
Trinke ich Gin. Ach egal. Sie atmete tief durch. »Fein. Kein Park. Wir spazieren lustig nach rechts und gucken, was uns querkommt.« In ihren Ohren triefte der Satz geradezu vor Ironie, doch
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