Violette Bescherung
Grabschändung?«
»Unter Schwachsinn fällt das.«
»Gibt es ein Bußgeld, Süße? Oder wären wir dann so richtig am Arsch, mit Vorstrafe und Sozialstunden und Punkten in Flensburg und …«
»Wir haben keine Schaufel«, warf Ewa ein, so harsch und entschieden, als wäre es das Totschlagargument schlechthin.
»Nur Finger zum Buddeln, exakt«, pflichte Jule ihr bei. »Totaler Quatsch. Funktioniert nie.«
»Jule, überleg mal.« Ewa atmete laut. »Wir könnten sonst wem in die Arme laufen.«
»Vollkommen richtig.« Jule nickte heftig. Zombies aus dem Jenseits und Diesseits. Totengräber, Massenmörder, Vergewaltiger, Satanisten, Sadisten, Nudisten, äh, falsch, debile Nekrophile, weiß der Teufel. Glatter Selbstmord. »Außerdem bin ich heute schon genug gerannt. Wobei uns der Kleine mit Sicherheit verteidigen würde, sobald uns jemand …«
»Es ist stockdunkel.«
»Korrekt. Abgesehen vom Mondschein, Grablichtern und meiner Taschenlampen-App, die uns garantiert helfen würde, wenn …«
»Jule!«
»Einfach nur gucken?« Jule holte tief Luft. »Ewa, mal ganz ehrlich. Meinst du nicht, wir nässen uns hier grundlos ein?«
»Nein.«
»Schön. Aber ich schwöre dir, so wahr ich Berlin kenne, dass …«
»Du wohnst hier seit maximal einem halben Jahr, Jule.«
»Eben«, rutschte es Jule heraus. »Deshalb fällt mir kein einziger Ort ein, beim besten Willen, wo wir alternativ einen Baum kriegen. Jetzt. Im Mai. Mitten in der Nacht. Friedhof gleich Tanne gleich Weihnachten. Punkt. Ende Gelände. Also blasen wir Schisser entweder das Fest ab – gern. Oder wir reißen uns für fünf Minuten zusammen. Schleichen rein, knicken uns von irgendeinem Baum irgendeinen verdammten Zweig für irgendeine verfickte Weihnachtsdeko und …«
»Okay.« Ewa wickelte die Leine noch fester um ihre Finger.
»Oh. O-Okay?« Jule wurde schwindlig. »Wir … wirklich?«
»Fünf Minuten. Ein Zweig. Du läufst vorne und Jule, wenn du wieder so eine Ich-erschreck-dich-Scheiße abziehst wie damals in der Geisterbahn, erschlag ich dich mit einem Grabstein. Verstanden?«
»Nichts lieber als das.«
Erlösender Tod klang toll. Viel toller als ihr anstehendes Vorhaben. Mit zitternden Fingern stülpte sich Jule die Kapuze über. Ewa tat es ihr gleich. Welch gefährliches Tannenkillerduo, mit dem optischen Charme einer Gartenzwergrevolte. Egal. Einmal durchatmen, kurz den Pudding aus den Knien schütteln und los. Da krallte sich Ewa in Jules Ärmel. Ihr Kopf nickte alarmiert nach oben zu einem kreisrunden Schild.
»Ewa, das ist doch kleinkarierter Kackmist jetzt.« Jule schnaubte. »Hunde verboten. Na und? Komm.« Entschlossen ergriff sie Ewas Hand, die feucht war von kaltem Schweiß. Vorsichtig schob Jule das quietschende Tor weiter auf und huschte hindurch.
Ein breiter Weg mit Kopfsteinpflaster tat sich vor ihnen auf, halbverschluckt von der Dunkelheit. Himmelhohe Bäume flankierten ihn wie finstere Riesen. Trauerweiden senkten ihre Zweige wie Fangarme herab, die Eindringlingen auflauerten. Es war windstill. Dennoch rauschte es in Jules Ohren, als wisperten die Bäume ihr zu. Nimm mich … Oder säuselten sie: Verpiss dich? Die hingen schließlich auch an ihren Zweigen.
»Psst. Da«, raunte Ewa. »Tanne. Rechts.«
»Na bitte. Läuft doch.«
»Ist aber schief.«
»Herrgott«, fluchte Jule durch zusammengepresste Zähne. »Wir sind nicht im Baumarkt, Fräulein.«
»Hässlich ist sie trotzdem.«
»Aber …«
Irgendwo – ein Flattern. Jule schreckte hoch. Schatten schossen in die Luft und verschmolzen wieder im Dunkel.
»Ewa, wa-waren das … Fledermäuse?« Nö, maskierte Kolibris, Schweitzer, gestört bei SM-Spielchen. – Nicht witzig. Doch für einen Sekundenbruchteil unterdrückte die Vorstellung von winzigen, bunten Vögeln ihren Fluchtinstinkt. War es alles eine Frage des Kopfkinos? Wer Horror hirnte und säte, erntete Grusel und Panik. That’s it. Trotzdem wollte Jule schleunigst raus aus diesem Film. Konnte dieses Grünzeug nicht irgendwo rumliegen wie … Grüngut. Bingo! Aufgeregt kramte Jule ihr iPhone hervor und drückte sich zur App, ehe sie den Schein der Taschenlampe über die Grabsteine wandern ließ. Dort drüben! Sie schleifte Ewa am Kragen zu zwei quadratischen Tonnen.
Kompostbehälter , enthüllte das App-Licht die Aufschrift. Nur für organischen Abfall, z.B. Laub, Erde, Blumen, Geäst, Unkraut.
›Geäst‹, ding-ding-ding, implizierte Nadelzweig. Und das Wort ›organisch‹ stand theoretisch für
Weitere Kostenlose Bücher