Violette Bescherung
Leichenteile jeglicher Art, die … brrr, nicht weiterdenken. Sie schwenkte den Schein zu Ewa wie ein Spotlight auf der Bühne.
»Du hast längere Arme, Jule. Außerdem halte ich den Hund.«
Der Drückeberger-Award ist dir sicher, Bogacz. Jule rückte an ihrer Brille, stellte sich auf Zehenspitzen und hängte sich über den Rand der Metallbox. Modriger Geruch schlug ihr entgegen. Im iPhone-Schein machte sie feucht glänzende Blätter aus, Erdklumpen, dornige Äste. Nie im Leben würde sie da freiwillig rumwühlen auf der Suche nach einem Zweig und - Pfui, Spinne! Flupp.
»Scheiße!«
»Jule, pssst. Spinnst du? Brüll nicht rum.«
»Da war eine Spinne.«
»Du bist größer.«
»Aber mein iPhone liegt jetzt da drin, Fräulein.«
»Dann hol es raus.«
Unglaublich. Was konnte die Bogacz doch pragmatisch denken. Wie ein Schatz leuchtete Jules Telefon durchs Geäst, leider tief am Grund. Ekelschauer jagten über Jules Rücken, als sie mit angehaltenem Atem im Kompost tastete. Es wuselte, es krabbelte. Auf ihr, in ihr.
»Gott, Süße. Das ist so abgrundtief widerlich.«
»Wollte ich unbedingt auf diesen Friedhof oder du, Jule?«
»Wegen mir suchen wir keine Zweige.«
»Tannen gehören zum Fest.«
»Wollte ich diese Drecksweihnacht oder …«
»Paulina. Punkt. Mach hin.«
Tempo. Leicht gesagt, wenn man nicht persönlich in der Scheiße wühlte. Jule fühlte sich gestrandet im TV-Dschungelcamp. Neben ihr ein feixender Moderator, der zur Eile drängte, während sie grün angelaufen in Kakerlaken und Maden nach einem Stern fahndete. Kakerlaken kauen wäre schlimmer, Schweitzer. Hopp! Somit voller Panik in die Botanik. Schmierige Blätter streiften Jules Haut. Äste piksten. Etwas Feuchtes stupste sie an. Regenwurm? Lebendig? Tot? Sie würgte und rang nach Fassung. »Ewa, sag was.«
»Was?«
»Zitier Rezepte, reiß Brillenwitze, mir wurscht. Nur lenk mich ab. Bitte.«
Ewa schob sich dichter an sie heran. »Für Butterplätzchen nimmst du in etwa drei Eigelb, gefühlt auf 150 Gramm warme Butter, die weich …«
»Stopp.« Erotik machte Jule nur noch nervöser. »Nimm Brille.«
»Trifft ein Optiker einen Einäugigen und sagt …«
»Ohne Zombies, verflucht. Ey, ich sterbe hier halb und zucke bei jedem Knacken …«
»Jule, glaubst du eigentlich an lebende Büsche?«
»Bogacz!«
»Sorry. Ich meine nur, dass …« Raunend presste sich Ewa noch enger an sie. »Als wir klein waren, hat uns Oma immer erzählt, dass die Welt voller Wunder ist. Genau in der Nacht zwischen dem 24. und 25. Dezember, weißt du? Da öffnet sich in Polen die Erde, hat sie gesagt. Alle Flüsse schmecken nach Honig und unter der Schneedecke wimmelt es vor Blumen mit den schönsten Blüten, die man sich nur vorstellen kann. An den Bäumen sprießen Knospen und schon hängen da Äpfel. Wie im Zeitraffer vorgespult. Die tollsten Äpfel der Welt. Bienen schwirren rum, aber sie summen nicht. Für ein paar Stunden können sie nämlich sprechen. Alle anderen Tiere auch. Die unterhalten sich wie wir. Fuchs plaudert mit Fisch, Hase mit Schnecke, Schmetterling mit Busch. In dieser Nacht reden sogar Steine, sie singen und tanzen. Eine Nacht voller Wunder.« Ewa seufzte leise. »Scheiße, ey, was habe ich die Story geliebt. Da hatte ich als Kind immer Gänsehaut und war kurz vorm Heulen, weil …«
Schnief.
»Äh, Jule?« Ewa beugte sich zu ihr. »Alles okay?«
Statt einer Antwort schniefte Jule erneut und starrte Ewa aus tränenden Augen an.
»Oh Gott. Zeig deine Hände, Jule. Dornen? Geschnitten? Du …«
»Ewa, ich … ich hab mein iPhone wieder.«
»Deshalb flennst du rum?«
»Und ganz da unten liegt … eine Tanne.«
Samstag, 1:28 Uhr
Eine Nacht voller Wunder. Ewas Oma hatte Recht behalten. Zwar spielten sie streng genommen die Zeitspanne vom 23. auf den 24. Dezember nach, äh, vor natürlich, und in Polen waren sie auch nicht, doch stand nun wahrhaftig eine echte Tanne in ihrem Wohnzimmer. Brusthoch, überwiegend grün, und sie muffte bestialisch. Ein blöder Schönheitsfehler. Vielleicht hätten sie keinen herumliegenden Müllsack wählen sollen, um ihre Beute getarnt durchs nächtliche Berlin zu tragen. Tja, blöd. Hinterher war man immer schlauer. Jule riss alle Fenster auf, nebelte Deo auf die Zweige und entfackelte Duftkerzen. Ewa schob sich den Pullikragen wie ein Bandit über der Nase, als sie den Baum in einem ihrer wuchtigen Blumentöpfe einmauerte, mit Handtüchern polsterte und mit Turnschuhen beschwerte.
»Er steht.«
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