VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit
zuerst. » Was zum Teufel…«
» Was ist…«, Shelton vergrub das Gesicht in den Händen, » …das denn?«
Ben sagte kein Wort.
Ich hielt ein schmales Bündel von Seiten in den Händen.
» Sieht religiös aus.« Selbst ich konnte keinen Enthusiasmus mehr vortäuschen.
» So’n Scheiß!«, stöhnte Hi. » Piratenschätze sind cool. Wertvoll. Aufregend. Und wir werden mit so einer mittelalterlichen Kirchenzeitung abgespeist.«
» Lass uns sie zumindest mal ansehen«, entgegnete ich. » Wir wissen ja noch gar nicht, was es ist.«
» Mach das.« Shelton griff erneut nach dem Beutel. » Ich zähl lieber noch mal die Goldmünzen.«
» Gib mir auch mal eine«, sagte Hi.
» Ich behalte euch im Auge.« Ben formte seine Finger zu einem V und zeigte auf seine Augen, ehe er sie auf Hi und Shelton richtete. » Nicht dass ihr mich bescheißt.«
» Ich bin persönlich beleidigt«, erwiderte Shelton.
Während die Jungs mit den Münzen ihre Scherze trieben, nahm ich die Seiten unter die Lupe.
» Das ist Pergament«, sagte ich. »Die Blätter sind in der Mitte gefaltet und zusammengebunden. Sieht nach insgesamt zehn Seiten aus.«
» Bin begeistert.«
» Schöne Pleite.«
Da den Jungs offenbar das Interesse fehlte, setzte ich meine Untersuchung schweigend fort. Das erste Blatt trug lateinische Wörter, die mit vielen Symbolen und Ornamenten verziert waren. Die Schrift selbst war von äußerster Eleganz und stammte von einem wahren Künstler, der die einzelnen Buchstaben teils mit filigranen Ausschmückungen versehen hatte. Die zweite Seite zierten Engel, die von phantasievollen Mustern umgeben waren. In der unteren Ecke war eine ornamentale Schlinge zu erkennen.
Obwohl ein wenig verblasst, waren die Farben immer noch atemberaubend. Schwarz. Gelb. Rot. Violett. Die Komplexität und Detailverliebtheit der Darstellungen ging fast über mein Fassungsvermögen hinaus.
Als ich die übrigen Seiten durchblätterte, fiel ein einzelnes Blatt heraus. Ich hob es auf.
Ein Brief. Ich erkannte die Handschrift.
» Sieh mal einer an.«
Mein veränderter Ton erregte die Aufmerksamkeit der Jungs.
» Was ist?«, fragte Hi.
» Nichts, was euch interessieren würde.« Ich schwenkte den Brief. » Nur ein weiteres Schreiben unserer Freundin Anne Bonny an Mary Read.«
Die Jungs schlurften zu mir herüber und machten vorübergehend Pause mit dem Geldzählen. Schweigend lasen wir den Brief.
Liebste Mary,
möge dieses Schreiben dich bei bester Gesundheit erre i chen. Seit meiner Flucht hatte ich keine Nachricht von deinem Aufenthaltsort und bin in Sorge um de i ne Sicherheit und dein Wohlergehen. Viele Pläne h a ben sich zerschlagen. Wenn du dies liest, dann weiß ich, dass du den richtigen Weg gefunden hast, woran ich nie gezweifelt habe. Meine Hinweise, mit denen ich selbst recht zufrieden bin, waren nur für dich bestimmt.
Ich schreibe, weil ich Charles Town in aller Eile ve r lassen muss. Jemand hat neugierige Fragen gestellt, und meine Freiheit ist in Gefahr. Ich werde Richtung Norden reisen, an einen Ort, über den wir gesprochen haben.
In dem Kästchen sind genug Münzen, um davon eine Weile leben zu können oder auch, um mich zu finden, wenn du es willst. Als Erinnerung habe ich dir deine liebsten Seiten hinterlassen. Die meinigen nehme ich mit mir. Wenn ich sie ansehe, werde ich deiner in Liebe gedenken.
Deine dir zugeneigte Freundin
Anne
Ich fand als Erste die Sprache wieder. » Sie wusste nicht, dass Mary tot ist. Wie traurig.«
» Vielleicht war sie das gar nicht«, sagte Shelton zweifelnd. » So genau kann man das ja nicht wissen.«
» Diesen Brief hat sie jedenfalls nicht gefunden«, entgegnete Ben. » So viel ist klar.«
Hi schüttelte den Kopf. » Anne Bonnys berühmter Piratenschatz besteht also aus einer Handvoll Münzen und ein paar Seiten aus der Bibel. Was für eine Enttäuschung.«
Ich ließ die Seiten herumgehen, damit sie jeder begutachten konnte. Die Jungs schienen nicht sehr beeindruckt zu sein. Schließlich brauchten wir ein Vermögen, um das LIRI zu retten, und unsere Ausbeute war eher kümmerlich.
Unsere Mission war fehlgeschlagen. Unser Rudel würde auseinandergerissen werden.
» Lasst uns hier Ordnung schaffen und verschwinden«, sagte ich. » So können wir eine Kirche jedenfalls nicht zurücklassen.«
Ben ging zu dem Quaderstein, den er aus dem Boden gehebelt hatte. » Pack mal mit an, Shelton.« Gemeinsam begannen sie, ihn wieder an seinen Platz zu schieben.
» Wo kommt das hin?« Hi
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