VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit
sich aber sofort wieder seinem Kauknochen zu.
» Das stimmt!«, sagte ich.
Jetzt warf er mir nicht mal einen müden Blick zu. Stattdessen rollte er sich zur Seite und brachte einen Bücherstapel zum Einsturz, den ich neben meinem Schreibtisch aufgebaut hatte.
» Pass doch auf!«, schimpfte ich. » Ich bin hier noch nicht fertig.«
Seit ich mir das mutierte Parvovirus eingefangen hatte, sammelte ich so viele Informationen wie irgend möglich. Über das Verhalten von Wölfen. Über Anatomie und Physiologie von Hundeartigen. Über die Epidemiologie bei Viruserkrankungen. Ich musste alles über meine neue DNA lernen.
Der plötzliche Schub im Yachtclub hatte meine Besorgnis nicht verringert.
Ich beschloss, den Vorfall erst mal für mich zu behalten– die anderen Virals machten sich schon genug Sorgen–, doch musste ich so schnell wie möglich Antworten finden.
Allerdings gab es jetzt noch ein weiteres Projekt.
» Hör zu, Hundegesicht, das hier ist echt interessant.« Ich ließ meinen Blick über den Monitor wandern. » Als diese Stadt noch Charles Town hieß, hat sie scharenweise Piraten angezogen. Die waren hier quasi zu Hause.«
Coop richtete sich kurz auf und begann im nächsten Moment, an den Beinen meines Schreibtischstuhls zu knabbern.
Ich schlug nach einer Fliege. Verfehlte sie. Coop stieß einen kurzen Laut aus und trottete aus meinem Zimmer.
» Undankbarer Bastard!«, rief ich seinem Schwanz hinterher, der aus der Tür verschwand. Ich hatte das Internet nach Links zu Anny Bonny abgesucht und dabei auch jede Menge Infos über einheimische Freibeuter zutage gefördert.
» Das ruft nach Unterstützung«, teilte ich dem leeren Raum mit.
Ich öffnete iChat, um nachzuschauen, wer Zeit für mich hatte. Klickte auf His Icon.
Er hatte erst kürzlich seine virtuelle Identität geändert und war jetzt Grüne Laterne. Ich war immer noch Grauer Wolf. Klassiker sterben nicht aus.
Grauer Wolf: » Hast du kurz Zeit? Ich habe einen… Plan. Eine Idee. So in etwa.«
Grüne Laterne: » Sollte ich dazu eine Lebensversicherung abschließen?«
Grauer Wolf: » Haha. Komm rüber. Und bring Shelton mit, wenn das geht.«
Grüne Laterne: » Schade, ich dachte, du wärst an mir interessiert.«
Grauer Wolf: » Bin von deinem guten Aussehen immer noch eingeschüchtert.«
Grüne Laterne: » Sehr verständlich.«
Grauer Wolf: » Ben kannst du auch gleich abholen.«
Grüne Laterne: » Wird gemacht.«
***
Fünf Minuten später enterten Shelton und Hi mein Zimmer. Zu seinen Khakishorts trug Hi ein knalloranges Kool-Aid-T-Shirt. Shelton hatte sein Lieblingsshirt mit dem Aufdruck » n OO b« an. Zusammen exakt die Verpackungsfarben von Reese’s Erdnussbutterplätzchen.
Hi ließ sich auf mein Bett fallen und trat sich die Schuhe von den Füßen.
» Ah, Mädchenkissen. Viel flauschiger als meine!« Er vergrub seine Nase darin. » Warum riechen diese Mädchensachen immer so lieblich?«
» Weil wir ein paar simple Hygienemaßnahmen ergreifen. Und sogar ab und zu das Badezimmer putzen.«
» Das muss ich mir aufschreiben. Aber da werde ich wohl Unterstützung brauchen.«
Shelton schüttelte den Kopf. » Also in meinem Bett darf der sich nicht rumfläzen. Ich weiß nämlich, wie seins aussieht, ziemlich unappetitlich.«
» Ich bin auch nicht begeistert, glaub mir.« Mir fiel auf, dass Coop sich gar nicht mehr gezeigt hatte. » Habt ihr eigentlich den Hund gesehen?«
» Der ist auf der Jagd«, antwortete Shelton. » Er ist direkt an uns vorbeigelaufen.«
» Na super.« Coop war wieder einmal nach draußen entwischt.
» Du kannst ja selber versuchen, die Bestie aufzuhalten«, schlug Hi vor. » Ich will jedenfalls nicht zwischen sie und ihre Beute kommen.«
» Halb so wild.«
In Charleston müssen Hunde stets an der Leine geführt werden, aber auf Morris? Wozu sollte das gut sein? Manchmal ist es eben von Vorteil, so abgeschieden zu leben wie wir. Außerdem trägt Coop jederzeit Halsband und Hundemarke und wird von allen Nachbarn als mein Haustier akzeptiert– zugegeben in unterschiedlichem Maße.
Wenn er Hunger bekam, würde er schon wiederkommen. Darauf konnte man sich verlassen.
» Ben ist auf dem Anleger und tauscht einen Ölfilter aus.« Glücklicherweise hatte Hi inzwischen meine Tagesdecke verlassen und war auf die Ottomane umgezogen. » Hab ihm gerade eine Nachricht geschickt.«
» Was hast du eigentlich für eine Idee?« Shelton hockte auf meiner Couch unter dem Fenster. Draußen schwappten die Wellen
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