VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit
sicher sein, doch spricht in meinen Augen alles für die Authentizität des Schriftstücks.«
» Können Sie uns erklären, wie Sie die Übereinstimmung der beiden Handschriften ermittelt haben?«, fragte ich.
» Sehen Sie her!« Short zeigte auf die erste Seite des Briefs. » Es handelt sich um eine altertümliche Schreibschrift, die charakteristisch für den Beginn des 18. Jahrhunderts ist. Das steht außer Frage. Ich habe einzelne Buchstaben– und Buchstabenverbindungen– in beiden Schriftstücken untersucht. Es gibt da bemerkenswerte Übereinstimmungen.«
» Müssen das genau dieselben Wörter sein?«, fragte Hi.
» Das ist hilfreich, aber keine Bedingung. Man kann auch durch die Untersuchung einzelner Buchstaben, vor allem von Großbuchstaben und Buchstabengruppen, interessante Aufschlüsse gewinnen.«
» Hier.« Short notierte etwas auf einem Zettel und gab ihn mir. » Schreiben Sie diesen Satz.«
Das tat ich und las den Satz laut vor. » Falsches Üben von Xylophonmusik quält jeden größeren Zwerg.«
» Dieser alberne Satz enthält jeden Buchstaben des Alphabets«, erklärte er. » Damit hat man die perfekte Kontrolle.«
» Kontrolle?«
» Für einen Vergleich. Wenn die Polizei beispielsweise jemanden dazu bringt, diesen Satz aufzuschreiben, dann kann ich die Handschrift mit anderen handschriftlichen Dokumenten wie Einkaufszetteln oder Ähnlichem vergleichen. Wenn beide Dokumente von derselben Person stammen, finde ich das heraus. Und nichts anderes habe ich heute getan.« Er wandte sich unseren Schriftstücken zu. » Zuerst habe ich die Vokale untersucht, den Verlauf ihrer Bögen, ob sie nach oben offen oder geschlossen sind. Ob der Buchstabe O oben rechts einen kleinen Wirbel hat oder nicht.«
» Verstehe«, sagte ich.
» Dann habe ich mich Buchstaben wie b und d zugewandt, die eine sogenannte Oberlänge haben, und analog dazu Buchstaben mit Unterlängen wie p oder q.«
» Hört sich kompliziert an«, sagte Hi.
Short nickte wohlgefällig. » Manchmal sind es auch andere Details wie spezielle Schwünge und Rundungen von Buchstaben oder die Neigung des gesamten Schriftbilds.«
» Und der Brief und das Gedicht stimmen in all diesen Merkmalen überein?« Ich wollte vollkommen sichergehen.
» Absolut«, bestätigte Short. » Schauen Sie nur mal hier den Großbuchstaben L an, wie er zum Beispiel in Lady vorkommt. Der hat eine ganz charakteristische Ausformung.«
» Sie meinen die großen Schleifen?«
» Ganz genau. Noch auffälliger erscheint mir allerdings, dass die Buchstaben g und r fast miteinander verschmelzen, sobald sie nebeneinander stehen wie in Peregrine. Auch das macht die Schrift unverwechselbar. Meiner Meinung nach sind diese Eigenheiten sogar genetisch kodiert.«
» Hey, Tor.« Hi betrachtete meine Handschrift. » Du hast genau dieselbe Angewohnheit.«
» Bitte?«
Short legte den von mir geschriebenen Satz neben Anne Bonnys Brief und das Gedicht. » Sehen Sie selbst, Miss.«
Hi hatte recht. Ich hatte das noch nie bemerkt, aber ich machte aus g und r quasi einen gemeinsamen Buchstaben, der aussah wie ein chinesisches Schriftzeichen.
» Was für eine sonderbare Übereinstimmung.« Short warf mir einen seltsamen Blick zu. » Normalerweise halte ich solch eine Eigenart für ein sicheres Identifizierungsmerkmal.«
» Deswegen schreibe ich auch nichts mehr mit der Hand«, scherzte ich. » Meine Klaue kann sowieso keiner lesen.«
» Immer weniger Menschen schreiben mit der Hand«, bemerkte Short und schüttelte missbilligend den Kopf. » Die Schreibschrift stirbt langsam aus. Aber das nur am Rande.« Er senkte die Stimme: » Dieser Brief ist eine historische Kostbarkeit. Wir müssen ihn wissenschaftlich auswerten und uns danach um eine geeignete Konservierung kümmern.«
» Alles zu seiner Zeit«, entgegnete ich rasch. » Fürs Erste brauchen wir ihn noch.«
Short sah mich ernst an. » Ich zweifle nicht daran, dass das Dokument Ihnen gehört, junges Fräulein. Sie können es verkaufen, an wen Sie wollen, doch bis auf Weiteres sind wir dazu verpflichtet, für seine Sicherheit Sorge zu…«
» Sie missverstehen mich, Dr. Short. Ich habe nicht vor, den Brief bei eBay zu versteigern. Aber vorläufig brauchen wir ihn noch. Tut mir leid.«
» Nun gut.« Kalt. » Warten Sie bitte.«
Mit zusammengekniffenen Lippen verschwand Short durch dieselbe Tür wie vorhin.
» Warum provozierst du ihn so?« flüsterte Hi.
» Weil wir den Brief unbedingt behalten müssen. Vielleicht hilft er
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