VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit

bis mein Rücken gegen den harten Fels stieß.
    Wir standen auf einem kaum zwei Meter breiten Felsvorsprung, darunter klaffte die Tiefe einer Schlucht. Der kleine Bach verwandelte sich an der Kante zu einem Wasserfall, der in den Abgrund stürzte. Niemand wusste, wie tief es hinabging. Das Gestein unter unseren Füßen setzte sich noch knapp zehn Meter weit fort und fand an einer Höhlenwand sein Ende.
    Auf der anderen Seite der Schlucht befand sich ein weiterer Felsvorsprung, der unserem nicht unähnlich war. Von dort aus setzte sich der Tunnel fort. Die Kluft zwischen den beiden Felsterrassen war mindestens sechs Meter breit.
    Wir waren in eine Sackgasse geraten. Gefangen. Keine Möglichkeit, die Kluft zu überwinden.
    » Wie sollen wir da rüberkommen?«, fragte Shelton.
    » Springen?« Bens Vorschlag fehlte jeder Enthusiasmus.
    Hi schüttelte mit Entschiedenheit den Kopf. » Nie im Leben springe ich da rüber. Nicht mal, wenn ich einen Schub habe. Nächster Vorschlag, bitte.«
    » Ich geb dir einen ordentlichen Schubs«, erwiderte Ben. » Hier können wir jedenfalls nicht stehen bleiben!«
    » Ganz ruhig«, sagte ich. » Schaut euch um. Was seht ihr?«
    Vier Lichtkegel wanderten durch das Dunkel. Ich beleuchtete den gegenüberliegenden Felsvorsprung, wusste jedoch auch keinen Weg, um dorthin zu gelangen.
    » Da oben«, rief Hi aufgeregt. » Direkt über uns hängt eine riesige Steinplatte.«
    Mein Blick schoss himmelwärts.
    Hi hatte recht. Knapp fünf Meter über unseren Köpfen hing an rostigen Ketten eine riesige Steinplatte, deren Ende bis über den anderen Felsvorsprung reichte.
    » Was ist das denn schon wieder?«, presste Shelton hervor. » Können wir da irgendwie raufkommen?«
    » Keine Chance.« Ben betrachtete die Wand in unserem Rücken. » Die Wand ist mehr als steil. Ohne professionelles Equipment schaffen wir das nicht.«
    » Dann holen wir das Monstrum eben zu uns runter«, sagte Hi.
    Synapsen feuerten in meinem Hirn.
    Brücke. Kluft. Brücke.
    » Die Schatzkarte!«, rief ich. » Die zweite Strophe!«
    Meine Finger rissen meinen Rucksack auf.
    Ich griff mir die Karte, rollte sie auseinander und beleuchtete die entsprechenden Zeilen. Die anderen Virals drängten sich an mich, während ich vorlas:
    Unter Lady Peregrines Schlafstätte
    Winde dich hinab zur Schleuse des dunklen Raumes.
    » Die erste Zeile hat sich schon erledigt«, sagte ich. » Hinabgewunden haben wir uns auch schon, aber was ist mit der ›Schleuse des dunklen Raumes‹ gemeint?«
    » Lies unten weiter«, drängte Hi.
    Tat ich.
    Drehe den Kreis des Erlösers
    in der offenen Nische der Kluft.
    Wähle deinen getreuen Diener,
    die richtige Brücke freizugeben.
    Ein Schauer rieselte mir die Wirbelsäule hinunter. » Dieses Rätsel muss die Antwort enthalten!«
    » Aber das ergibt doch keinen Sinn!«, sagte Hi.
    » Die richtige Brücke.« Ben runzelte die Stirn. » Irgendwie gefällt mir das nicht.«
    » Wenn das wirklich ein Hinweis ist«, sagte ich, » dann müssen wir herausfinden, was es mit dem ›Kreis des Erlösers‹ auf sich hat und wo die ›offene Nische der Kluft‹ ist.«
    Für einen Moment sprach niemand ein Wort.
    Dann schnappte Shelton nach Luft.
    » Könnte es das sein? Dieses Loch da vorne?«
    Sheltons zitternder Zeigefinger deutete auf eine moosbewachsene Nische, die hinter uns in die Wand geschlagen worden war. Ungefähr so groß wie ein Brotkasten, war das moosbewachsene Rechteck kaum zu erkennen.
    Nachdem ich das Moos mit meinen Fingernägeln weggekratzt hatte, sah ich, dass die Nische einen kleinen Gegenstand enthielt– einen flachen, kreisrunden Stein von der Größe einer kleinen Pizza. Sieben kleine Höcker bildeten auf der Oberfläche ein T. Die Mitte war eingekerbt. Dieser Gegenstand war eindeutig von Menschenhand gefertigt worden.
    » Shelton hat recht«, sagte ich. » Das muss die Nische sein.«
    » Dann geht es jetzt um den Kreis des Erlösers«, sagte Hi. » Aber was könnte das sein?«
    Ich ließ mir die Wendung durch den Kopf gehen.
    Drehe den Kreis des Erlösers. Drehe den Kreis. Kreis des Erlösers.
    » Anne Bonny war eine Christin«, sagte ich. » Demzufolge ist Jesus Christus ihr Erlöser, oder?«
    » Vielleicht sollen wir Jesus irgendwie im Kreis drehen«, sagte Shelton. » Drehe Jesus im Kreis… Ergibt das für euch irgendeinen Sinn?«
    Klick.
    » Sag das noch mal.«
    » Drehe Jesus im Kreis… aber wie?«
    » Wodurch wird Jesus repräsentiert?«, fragte ich. » Durch ein Kreuz! Sieh mal!«
    Ich