VIRALS - Nur Die Tote Kennt Die Wahrheit

jedenfalls nicht her«, sagte ich. » Die Kleider sehen relativ modern aus und sind noch nicht völlig verrottet. Die Haut ist lederartig. Hier unten gibt es keine Tiere oder Insekten, und die kühlen Temperaturen haben geholfen, den Körper zu konservieren.«
    » Ob er ein Portemonnaie in der Tasche hat?«, fragte Hi.
    Keiner bewegte sich.
    Also gut.
    Ich trat einen Schritt vor und untersuchte vorsichtig die Taschen des Mannes. Jacke, Hemd, Hose.
    » Nichts. Keine persönliche Habe.«
    » Was ist das da unten?«, fragte Ben.
    Unterhalb des Leichnams lag ein schmutziger Seesack. Ich stülpte ihn um und schüttelte den Inhalt heraus. Eine Feldflasche. Ein halb zerfallener Archie-Comic. Wachspapier, in das etwas eingeschlagen war, was vielleicht mal als Proviant gedient hatte. Und eine polierte glatte Steinscheibe von der Größe eines Hamburgers.
    Die Scheibe war zwei, drei Zentimeter dick. Vier Löcher verliefen senkrecht in einer Reihe, drei weitere zierten die Oberfläche. In der Mitte ragte ein winziges Dreieck hervor.
    » Was zum Teufel…?« Shelton schien verwirrt zu sein.
    » Keine Ahnung.« Ich steckte das Ding in meinen Rucksack. » Ein Ausweis ist nicht dabei.«
    In diesem Moment streifte mein Ellbogen versehentlich ein verschrumpeltes Bein. Der Körper geriet in Bewegung, und ein schwarzer Stiefel fiel auf die Erde.
    Ich sprang zurück, mein Herz pochte.
    Nichts geschah. Mein Puls beruhigte sich wieder.
    Der Anblick aktivierte eine Alarmglocke in meinem Kopf. Neugierig betrachtete ich den vertrockneten Fuß. Die Glocke wurde lauter, während ich die Socke abstreifte.
    Die Jungs bekundeten ihr Missfallen. Ich ignorierte sie und stieß mit dem Finger gegen die lederartige Haut. Strich mit einem Finger am Fußgelenk entlang.
    » Ich weiß, wer das ist!«, sagte ich.
    » Nie im Leben««, entgegnete Ben mit spöttischer Stimme.
    » Seht euch mal den unnatürlichen Winkel an, den der Fuß zum Gelenk einnimmt«, erklärte ich. » Eine typische Extremitätenfehlbildung, die hier mit der Supination des Fußes einhergeht. Ein klassischer Fall von Pes equinovarus et plantiflexus adductus congenitus.«
    Leere Blicke.
    » Mein Latein ist leider ein wenig lückenhaft«, sagte Hi.
    » Klumpfuß! Eine häufige Fehlbildung, die der Korrektur bedarf. Was bei dieser Person allerdings unterblieben ist.« Ich warf Hi den Stiefel zu. » Schau mal die Sohle an. Eine Spezialanfertigung, die den Druck auf das Gelenk mindern sollte.«
    » Ein Klumpfuß, meinetwegen«, entgegnete Shelton. » Aber woher willst du wissen, wer dieser Mann ist?«
    » Weil ich von einem Mann mit Klumpfuß weiß, der schon lange vermisst wird und ein leidenschaftliches Interesse an Anne Bonny hatte. Es muss sich um Jonathan Brincefield handeln.«
    » Um wen?« Drei Stimmen.
    » Erinnert ihr euch an den alten Mann, der die Geistertour mitgemacht hat?« Ich erzählte ihnen von meinem Gespräch mit Rodney Brincefield im Yachtclub. » Er hat mir erzählt, dass sein Bruder spurlos verschwunden ist, als er nach dem Schatz von Anne Bonny gesucht hat. Das war in den 40er-Jahren.«
    » Diese Leiche ist Brincefields Bruder?«, fragte Hi. » Was für ein unglaublicher Zufall.«
    » Ganz davon zu schweigen, dass der komische Kauz unsere Tour mitgemacht hat.«
    » Vielleicht ist er mir gefolgt.« Doch eigentlich glaubte ich das nicht.
    » Kann ich mir nicht vorstellen.« Hi lehnte sich an die Wand. » Du ziehst eher Verrückte an wie…«
    Klick.
    Ben riss Hi zur Seite, als zwei weitere Dornen aus der Wand schossen und in Jonathan Brincefields Brustkorb einschlugen.
    Hi keuchte wie ein Windhund. Einmal mehr hatte ihm Bens Reaktionsschnelligkeit das Leben gerettet.
    » Würdest du das jetzt endlich sein lassen!«, fuhr Ben ihn an.
    » Würdest du bitte damit weitermachen«, gab Hi kleinlaut zurück.
    Segmente des zerschmetterten Oberkörpers der Leiche bedeckten den Boden des Tunnels. Beine und Rumpf schienen unversehrt, nun von zwei riesigen Kneifzangen an Ort und Stelle gehalten.
    » Lasst uns weitergehen«, drängte ich. » Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
    » Hört ihr das?«, fragte Shelton mit gedämpfter Stimme.
    Wir bewegten uns nicht vom Fleck. Ich schloss die Augen und lauschte, mein akustisches Wahrnehmungssystem auf maximale Empfindlichkeit eingestellt. Doch ich hörte nichts.
    Shelton brach die Stille. » Ich dachte, ich hätte ein knirschendes Geräusch gehört. Wie von einer Bewegung.«
    » Vielleicht ist noch ein bisschen Schmutz heruntergerieselt«,