VIRALS - Tote können nicht mehr reden - Reichs, K: VIRALS - Tote können nicht mehr reden
Holzschnitzereien schmückten die Wände. So ähnlich stellte ich mir den Vatikan vor. Für einen Moment bestaunte ich die ganze Pracht wie irgendein Tourist. Direkt unter der Kuppel erhob sich eine zweieinhalb Meter hohe Statue. Milton Claybourne, der Architekt des herrschaftlichen Gebäudes. Er schaute finster drein, hatte ein bandagiertes Gesicht und eine Muskete in der Hand.
»Du siehst ja lustig aus«, flüsterte ich. »Und so bescheiden. «
Eine wuchtige Treppe, die Versailles zur Ehre gereicht hätte, wand sich entlang einem schimmernden Holzgeländer nach oben. Ich zögerte nicht und eilte hinauf.
Der Gang im zweiten Stock verlief parallel zu der darunter liegenden Eingangshalle. Türen zu beiden Seiten.
Verglichen mit dem hellen Tageslicht im Erdgeschoss herrschte hier oben tiefe Nacht. Die Wände mit Mahagoni verkleidet. Keine Fenster. In der Ferne gedämpftes Licht. Schatten erfüllten jeden Winkel und lasteten schwer auf dem dunkelroten Teppich.
Ich hatte ein ganz besonderes Ziel. Das Arbeitszimmer von Hollis Claybourne. Mein Instinkt sagte mir, dass es sich irgendwo hier oben befinden musste.
Ein Stück den Flur hinunter öffnete sich eine Tür.
Fieberhaft suchte ich nach einem Versteck.
Versuchte mein Glück in einem Wäscheschrank. Zu klein.
Die Tür schloss sich wieder.
Ich drehte einen Türknauf.
Quietsch!
Die Scharniere kreischten durch die Dunkelheit.
Ich schlängelte mich hinein und zog die Tür hinter mir zu. Blieb wie angewurzelt stehen. Hielt mir mit zitternder Hand den Mund zu.
Aus der Eingangshalle drangen Geräusche zu mir herauf. Das Klappern von Porzellan. Eine Tür, die sich öffnete und wieder schloss.
Ich stieß erleichtert die Luft aus. Das war knapp.
Ich drehte mich um, nahm meinen Zufluchtsort in Augenschein. Meine Erleichterung verwandelte sich in Erstaunen, dann in Erregung.
Ich stand in Chance’ Schlafzimmer.
Kein Zweifel. Die Wände waren mit Fotos bedeckt. Chance in London, Paris, Venedig. Chance beim Baseball, Tennis, Golf. Hannah und Chance auf einem Handtuch am Strand.
Auf einem massiven Bücherregal standen Trophäen und Erinnerungsstücke. Ein gerahmtes Foto besaß einen Ehrenplatz auf der Kommode. Hannah in einem weißen Kleid, in der Hand eine Rose. Als wäre es ein Geschenk für ihn. Sie sah hinreißend aus.
Grrr.
Ich warf einen Blick in den Kleiderschrank. Bolton-Prep-Schuluniformen drängten sich auf einem Gewirr unterschiedlich großer Bügel. Darunter ein Haufen italienischer Lederschuhe. Teure Seidenkrawatten lagen zusammengeknüllt auf einem Regalbrett.
»Chance«, flüsterte ich. »Du bist echt ein Chaot. Das hätte ich gar nicht von dir gedacht.«
Als Nächstes begutachtete ich seine Bücher. Größtenteils Sachbücher, kaum Romane.
Von seiner Wäschekommode ließ ich allerdings die Finger. Sogar ich habe meine Grenzen. Und falls plötzlich die Tür aufging, wollte ich keinesfalls mit seiner Unterhose in der Hand erwischt werden.
Schließlich wandte ich mich dem Schreibtisch zu. Lose Kabel warteten auf die Rückkehr eines Laptops. Bücher und Papiere lagen quer durcheinander. Ein Drucker stand neben einem Scanner, beide ebenfalls nicht angeschlossen. Ein Becher mit dem Logo einer Militärakademie enthielt Stifte und Textmarker.
Ein brauner Briefumschlag weckte mein Interesse. Ursprünglich mit rotem Klebeband verschlossen, war er an einer Seite aufgeschlitzt worden. Vier Buchstaben waren darauf zu lesen: SLED.
South Carolina Law Enforcement Division.
Der Bericht über den Fingerabdruck.
Ich zog ein einzelnes Blatt aus dem Umschlag. Eine handschriftliche
Notiz war daran geheftet. Ich las: »Hier ist die Info. Du schuldest mir was! Wir sehen uns, Chip.«
Ich runzelte die Stirn. Warum hatte mir Chance nicht einfach den Bericht gegeben? Verheimlichte er mir etwas?
Ganz ruhig. Vermutlich hatte er versprochen, die Originalunterlagen nicht herauszugeben. Außerdem wollte er nicht, dass ich einem so gefährlichen Mann wie diesem Newman selbst nachstellte. Also kein Wunder, dass er das Material behalten hatte.
Ich faltete das Blatt auseinander. Sah eine Fotokopie des Fingerabdrucks, den ich auf dem Mikrofilm-Lesegerät entdeckt hatte. Daneben ein Bild, das aussah wie ein Fahndungsfoto.
Vor Schreck hätte ich das Blatt fast fallen lassen.
Ich kannte dieses Gesicht. Den Bürstenhaarschnitt. Die lange Narbe am Unterkiefer.
Ich las jedes Wort zweimal.
Es war kein Mann namens James Newman identifiziert worden. In dem Bericht kam dieser
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