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Virga 01 - Planet der Sonnen

Titel: Virga 01 - Planet der Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schroeder
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steigen - die Menschen hier hatten keine Seilbahn gebraucht.
    Jedes Rad war doppelt so groß wie alle Habitaträder von Rush. Unzählige Herrenhäuser und Minarette drängten sich an den Innenseiten, und ringsum schwebten viele weitere Gebäude frei im Dunkeln. Aber alles erschien unwirklich, wie ein Kinderspielzeug aus Elfenbein, denn es fehlte jegliche Farbe. Jeder Gegenstand, jedes Bauwerk war im gleichen reinen Weiß gehalten.
    Gridde pfiff vor seinem Periskop zwischen den Zähnen. »Das ist Asche, Sir. Feiner als Rauch, und wenn sie sich absetzt, wirkt sie wie Farbe. Die ganze Stadt ist damit zugedeckt.«
    Ein Leichentuch , dachte Chaison und erschauerte.
    »Aber ich kann den Weg sehen«, fuhr der Kartenmeister fort. Er hielt die Karte in Form eines langen Astes in die Höhe, die Venera aus der Touristenstation
mitgebracht hatte. »Von hier aus kann ich uns weiterlotsen.«
    Der Knoten in Chaisons Magen löste sich ein klein wenig.
    Die Krähe glitt lautlos an den toten Rädern vorbei. Gerade als die Leuchtraketen zu erlöschen drohten, entdeckte Chaison die ersten verfärbten Stellen an den unbewegten Gebäuden. Dort waren Gegenstände entfernt, Türen aufgebrochen und Fenster eingeschlagen worden. Jemand war hier gewesen, um das tote Habitat zu plündern, aber die Eindringlinge waren nicht in großer Zahl gekommen und auch nicht lange geblieben.
    Ob sie von Geistern vertrieben worden waren? Von leisem Rascheln im Dunkeln, nur erahnten Bewegungen in den einst dicht bevölkerten Straßen? Oder hatte die unerbittliche, bedrückende Stille dazu geführt, dass die Männer zunächst nur flüsternd und endlich gar nicht mehr sprachen? - Waren sie geflüchtet, hatten es aufgegeben, sich an den Toten hier bereichern zu wollen; waren sie beschämt und verängstigt aus Leaf’s Choir geflohen, um nie zurückzukehren?
    Carlinth klebte an der Spitze eines sechs Kilometer langen Ausläufers des Waldes. Als der Scheinwerferkegel der Krähe das gebleichte Knäuel streifte, zeigte sich, dass die Brände die Stadt nicht erreicht hatten. Vielleicht hatten die Bürger von Carlinth in heldenhafter Anstrengung die Flammen abgewehrt; doch damit hätten sie ihr Ende nur hinausgezögert, denn der Rauch verpestete die Luft, er kam von allen Seiten, kroch unter den Türen hindurch und drang durch alle Ritzen, und schließlich erlagen ihm alle. Fanning konnte
sich die tragischen Szenen nur vorstellen, die in Schlafzimmern und Geschäften überall in der Stadt wohl immer noch zu sehen waren.
    Der unverbrannte Wald war wie eine unendlich filigrane Porzellanskulptur: Aber Chaison war müde und überließ Gridde gern die Navigation. Er selbst zog sich in seine kleine Kabine auf dem Rad der Krähe zurück. Venera lag quer über dem Bett und schnarchte. Als er sie anders hinlegen wollte, erwachte sie, lächelte verschmitzt und zog ihn zu sich herab. Sie liebten sich heftig und mit Leidenschaft; alles, was während des Tages zwischen ihnen stand, wurde von Augenblicken wie diesem ausgelöscht. Sie bestätigten sich ihre Loyalität zueinander durch Zärtlichkeiten und Küsse, ohne dass ein Wort gefallen wäre.
    Als er erwachte, schien es ihm, als wäre die Zeit stehengeblieben. Venera schlief. Jedenfalls nahm er das an, doch sicherheitshalber fühlte er ihr den Puls. Man wusste nie, die giftigen Gase lauerten überall.
    Im Kartenraum hing der Gestank eines ungewaschenen alten Mannes, und Gridde schien zu Tode erschöpft, aber er war immer noch auf seinem Posten. »Wir sind fast da«, krächzte er. Mit der rechten Hand umklammerte er das Ende eines Sprechrohrs, seine Augen wanderten zwischen der astförmigen Karte und dem Periskop hin und her. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, aber sie glühten vor Begeisterung.
    Griddes Lachen klang, als rausche Wasser durch alte Rohre. »Gehen Sie auf die Brücke, mein Junge. Wir sind höchstens noch eine halbe Stunde von unserem Ziel entfernt.«

    Chaison grinste. Er fühlte sich wirklich wie ein kleiner Junge, niemandem verantwortlich als sich selbst. Er hatte Hunger - er musste sich etwas zu essen heraufschicken lassen. Nur mit Mühe unterdrückte er ein triumphierendes Gelächter. Der Plan gelingt!
    Auf dem Weg nach draußen blieb er stehen und warf einen Blick durch das Bullauge. Ihm stockte der Atem.
    Die Welt außerhalb der Krähe hatte wieder Farbe bekommen.
    Hier war der Wald nicht verbrannt. Von Dunkelheit umgeben und ohne Luftzufuhr waren die Bäume nur langsam gestorben. Möglicherweise hatte

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