Virgil Flowers - 04 - Blutige Saat
ist.«
»Wally Rooney.«
»Ja. Ich lasse durchblicken, dass wir neue Informationen erwarten, und versuche, ihr etwas zu entlocken. Bearbeite sie mit Bibelzitaten. Irgendwas geht in ihr vor, keine Ahnung, was. Ich lasse sie wissen, dass wir ihnen auf den Fersen sind.«
»Mit ihr kannst du nicht über den Kindesmissbrauch reden«, sagte Lee. »Noch nicht.«
»Noch nicht«, pflichtete Virgil ihr bei. »Aber ich kann die Sache mit Kelly Baker erwähnen und wie sie missbraucht wurde. Und ich kann laut überlegen, ob weitere Sektenmitglieder mit von der Partie waren. Den Eindruck erwecken, dass ich noch nichts Definitives weiß, jedoch dabei bin, mehr zu erfahren …«
»Und welche Rolle soll ich spielen?«
»Wenn wir morgen Abend oder übermorgen die Falle zuschnappen lassen, musst du in den Startlöchern sitzen für den Durchsuchungsbefehl, damit wir uns Rouse vornehmen können. Rouse mit seinen Fotos ist der Schlüssel zu allem.«
»Angenommen, sie finden sie tatsächlich. Was ist, wenn die Leute, die bei ihr auftauchen, nicht die Leute sind, die du kennst? Die sie aber kennen sollte? Und sie macht die Tür auf und weiß nicht, wer Roland ist …«
»Sie kennt Roland«, fiel Virgil ihr ins Wort. »Sie hat ihn oft gesehen, mit Lucy. Und sie kann sich weigern, ihn reinzulassen. Aber ich verstehe, was du meinst …«
»Nimm Dennis und Gene mit. Die kennen die Leute.«
»Okay, das regeln wir morgen früh. Wow, das wird spannend.«
Ihre Hand glitt suchend seinen Oberschenkel entlang, bis sie ihr Ziel fand. »Du wirst mir fehlen, Virgil«, seufzte sie.
»Ach ja? Wie sehr?«
Am folgenden Tag ging alles sehr schnell. Statt Louise Gordon abzuholen, was einen Zweistundenumweg bedeutet hätte, rief Virgil sie an, und sie erklärte sich bereit, selbst nach Hayfield zu fahren. Sie klang aufgeregt.
»Das ist viel besser als Schrauben sortieren. Ich hab mir neue Schuhe gekauft. Keine Ahnung, warum.«
»Bleiben Sie ruhig und fahren Sie vorsichtig«, ermahnte Virgil sie. »Sie dürfen jetzt nicht im Straßengraben landen.«
Dennis Brown, Lee Coakleys früherer Chef, und Schickel würden in einem Wagen mitkommen. Virgil riet ihnen, ein Fernglas mitzunehmen und sich darauf einzustellen, dass es spät werden, möglicherweise sogar die ganze Nacht dauern würde. »Die Motelrechnung begleichen wir. Wenn sie am zweiten Tag nicht auftauchen, kommen sie überhaupt nicht.«
Virgil verließ das Motel um acht Uhr und fuhr in westlicher Richtung die I-90 entlang zu den Floods. Als er ihr Haus erreichte, kam eines der Mädchen in Arbeitskleidung aus der Scheune, ging wieder hinein und trat wenig später mit der Schwester heraus, die einen Korb mit einem halben Dutzend Eiern am Arm trug.
»Was wollen Sie?«, fragte Edna.
»Ich muss noch mal mit eurer Mutter sprechen«, erklärte Virgil. »Ist Mr. Rooney da?«
»Der ist im Ort. Er kommt in einer Stunde zurück«, sagte Helen. »Was wollen Sie von ihm?«
»Nichts. Mich hat nur interessiert, ob er da ist.«
Wie die beiden so nebeneinander auf dem schneebedeckten Hof standen, sahen sie in ihren düsteren Kleidern, mit der blassen Haut, den hellen Augen und den ernsten Gesichtern aus wie auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie aus den dreißiger Jahren, zwei Waisenmädchen in einer Bergarbeiterstadt in West Virginia.
»Mutter ist im Haus«, teilte Edna ihm mit. »Seit Ihrem letzten Besuch ist sie nicht mehr die Alte. Vielleicht hat sie sich was eingefangen. Wir sagen ihr, dass Sie da sind.«
Auch Alma Flood sah aus wie auf einem alten Foto, dachte Virgil, als die Mädchen ihn ins Wohnzimmer führten. Sie saß in demselben Sessel wie bei seinem letzten Besuch, trug einen langen schwarzen Rock und eine graue Bluse mit einer dunkelgrauen Strickjacke, fast bis oben hin zugeknöpft. Aus der Tasche der Jacke lugte ein Papiertaschentuch. Die Leselampe hinter ihr war eingeschaltet; mit dem Finger merkte sie eine Stelle ziemlich am Ende der Bibel ein.
»Was wollen Sie diesmal?«, fragte sie.
»Mit Ihnen reden«, antwortete Virgil und zog einen Stuhl heran. »Ich versuche schon eine ganze Weile, gedanklich den Mord an Kelly Baker zu lösen. Inzwischen glaube ich ziemlich sicher zu wissen, was passiert ist. Ich vermute, Ihr Mann und Jim Crocker hatten eine sexuelle Beziehung mit ihr und waren bei ihrem Tod dabei. Als der Tripp-Junge das herausfand, hat ihn das genauso zum Handeln getrieben wie Tripps Verhaftung Crocker. Und Crocker wurde ermordet, damit er den Mund
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