Virtuosity - Liebe um jeden Preis
hatte. »Gewinn Guarneri und du bist Legende. Verlier, und wer bist du?«
Ein anderes Mal hatte er mir erzählt, dass die Leute glaubten, Paganini, der italienische Geiger aus dem 19. Jahrhundert, sei vom Teufel besessen gewesen. »Zu gut«, hatte er gesagt. »Leute sagen, er ist nicht nur Mann. Er hat Teufel.« Dann war er verstummt und hatte mit einem von Arthritis gezeichneten Finger auf mich gezeigt. »Du bete zu Gott für so ein Teufel. Du musst wissen, Paganini spielte auf Guarneri-Geige.«
Juri konnte ja gern um Teufelei beten, ich betete um Erlösung. Bitte lieber Gott, ein schöner grader Ellenbruch, bitte, Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch auf Erden, glaube ich, Amen. Und ein Ave Maria.
Ich setzte mich auf und sah aus dem Fenster. Die Realität verpasste mir eine schallende Ohrfeige, ganz typisch für Chicago: ein Schneesturm im April! Ich stand auf, ging zum Fenster hinüber und schob den Vorhang beiseite. Dicke Flocken schwebten an der Fensterscheibe vorbei und ließen sich auf einem Schneeteppich nieder, der bereits von Stiefeln und Autoreifen beschmutzt worden war. Dasbedeutete, dass ich auf dem Weg zu meiner Musikstunde in Juris Apartment durch Schneematsch waten musste. Zu Fuß dauerte es vier Minuten bis zur Hochbahn, gefolgt von einer achtminütigen Fahrt und dann noch mal zwei Minuten zu Fuß – genug Zeit, so richtig schön nass zu werden. Ich schnürte meine Stiefel zu, zog eine dicke Jacke über und schlang mir den Geigenkasten über die Schulter. So viel zum Thema Frühling.
Ehe ich das Zimmer verließ, sah ich noch schnell nach meinen E-Mails. Nichts von Jeremy. Gut. Anscheinend stimmte er mit meiner Beurteilung seiner Person überein. Laut meiner Uhr waren es noch fünfundvierzig Minuten bis zu meiner Stunde. Ich öffnete die hölzerne Pillendose, die auf meinem Nachttisch stand, und nahm zwei winzige orangefarbene Pillen heraus. Ich schluckte eine nach der anderen mit ein bisschen Wasser. Dann überlegte ich es mir anders und nahm noch eine Tablette. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
Angeblich dauerte es eine Weile, bis man die Wirkung von Inderal spürte, aber ich merkte den Unterschied sofort. Meine Handflächen waren plötzlich wieder trocken, mein Puls beruhigte sich und dann verstummte auch das nervöse Brummen an der Basis meines Schädels. Die Übelkeit, die auf meinen Magen drückte, hob sich so unmerklich, dass ich es erst bemerkte, als sie nicht mehr vorhanden war. Das fand ich immer am besten. Und wenn die Nervosität erst einmal verschwunden und alles flach geworden war, schien es, als hätte die ganze Welt eine matte Oberfläche. Keinen Glanz, auf dem man ausrutschen könnte.
Eigentlich sollte ich Inderal nur für Auftritte einnehmen, aber die Musikstunde heute war wichtig. Ich hatte kein Problem damit zu rechtfertigen, dass ich vor der wichtigsten Musikstunde des ganzen Jahres ein paar Pillen schluckte.
Unser Haus war ein typisches Reihenhaus, hoch und schmal, mit Nachbarn zu beiden Seiten. Um hinunter auf die Straße zu gelangen, musste ich von meinem Zimmer im zweiten Stock die Treppe hinunter in den ersten Stock, an der Küche und dem Schlafzimmer meiner Eltern vorbei, dann noch eine Treppe hinunter und vorbei am Wohnzimmer und an Dianas Büro.
Ich hörte Clarks Stimme, ehe ich die erste Treppe hinunter war. »Spiegelei?«, rief er. Ich betrat die Küche, wo er mit dem Rücken zu mir vorm Herd stand und ein Ei mit einem Spachtel in der Pfanne umherschob.
Ich nahm einen Mohnbagel aus dem Kasten. »Keine Zeit.«
Er schüttelte den Kopf und klappte das Ei vorsichtig über. »Proteine, Carmen. Proteine. Die paar Kohlehydrate halten nicht bis zum Ende der Stunde vor.«
»Deshalb trinke ich ja ein Red Bull«, entgegnete ich und nahm eine Dose aus dem Kühlschrank.
»Das kann dir unmöglich so früh am Morgen bekommen.«
Ich zuckte die Achseln.
»Hast du immer noch vor, heute Abend mit mir zu laufen?«, erkundigte er sich.
»Falls du es von oben abgesegnet bekommst. Ich probe morgen mit dem CSO für das Konzert am Samstagabend.«
»Ich werde mit ihr reden«, antwortete er.
Clark war die einzige Person in meinem Universum, die mich nicht ausschließlich als Geigerin sah. Für ihn war es bloß eine weitere Information über mich, wie meine Lieblingssendung im Fernsehen oder meine Haarfarbe. Er war Steuerberater und konnte Arbeit und Freizeit gut trennen.
Ich war schon halb aus der Küche, als ich einen Korb bemerkte, der in Zellophan und
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