Virtuosity - Liebe um jeden Preis
peinlich, es zuzugeben, insbesondere, weil ich natürlich wusste, dass ihre Wertschätzung und ihr Geschenk mehr mit ihrem öffentlichen Ansehenzu tun hatten als mit mir. Schließlich war ich es nicht wert gewesen, überhaupt anerkannt zu werden, bevor ich berühmt geworden war. Trotzdem war ein kleiner Teil von mir glücklich. Es war nicht besonders kompliziert. Ich wollte einfach, dass sie mich mochten.
Aber das konnte ich Diana nicht sagen. In ihrer Welt war Talent die einzige Währung und die Glenns waren somit wertlos: Sie hatten selbst keins, hatten es nicht in ihr erkannt und akzeptierten mich erst als ihre Enkelin, nachdem ihnen die ganze Welt mein Talent unter die Nase gerieben hatte.
Ich legte die Violine unter das Kinn.
Als ich das Instrument bekommen hatte, war es noch einfacher gewesen, Geigerin zu sein. Da war es noch um die Musik und weniger um Stress gegangen. Ich wollte etwas spielen, das mich zurück in diese Zeit versetzen würde. Nicht das Violinkonzert von Tschaikowsky oder alles andere, das vom Guarneri-Wettbewerb kontaminiert war. Einfach etwas Schönes.
Mein Blick fiel auf den Tragegurt meines Geigenkastens. Dort steckte eine winzige Brosche der amerikanischen Flagge, die mir Clark vor meiner ersten Europa-Tournee geschenkt hatte. Ich legte die Geige auf die Schulter, strich sacht mit dem Bogen über die Saiten und schon füllten die ersten Noten von Amazing Grace den Raum. Ich musste mich nicht einmal anstrengen. Der Druck schmolz unter der Wärme der Melodie dahin und die Musik sprach zu mir. Vergiss Jeremy King, vergiss den Wettbewerb, vergiss alle Erwartungen . Und am Ende der ersten Strophe hatte ich es beinahe geschafft.
Ich legte die Violine in den Koffer zurück und schlich wieder über den Flur. Plötzlich war mein Bett weicher, die Bettdecke engte mich nicht mehr ein, sondern umhüllte mich. Schlaf schien auf einen Schlag möglich. Ich war fast eingeschlafen, als ich plötzlich Dianas Handy klingeln hörte. Nur ein einziges Mal.
Die Nummern meiner Digitaluhr auf dem Nachttisch leuchteten. 3:49. Wer rief mitten in der Nacht bei ihr an? So leise ich konnte,stieg ich aus dem Bett und schlich nach draußen, ehe ich noch über die Alternativen nachdenken konnte.
Dianas nackte Füße klatschten den Flur unten entlang und hielten an der Treppe direkt unter mir an. Ich ging instinktiv in die Hocke, falls sie nach oben blicken sollte. Sie tat es nicht, sondern drehte sich zur Wand und setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe.
»Warum rufst du hier an?« Ihre Stimme befand sich irgendwo zwischen Zischen und Flüstern. »Ich habe dir doch gesagt , du sollst nicht anrufen.«
Stille.
Ihre Wut war verpufft, als sie wieder flüsterte. »Es ist noch schlimmer. Zumindest laut Juri …«
Ich lehnte mich vor, aber es gab nichts zu hören. Sekunden schienen wie Minuten.
»Du hast recht. Es wird Zeit … das finde ich auch … nein, kümmere du dich um die Details. Schließlich kennst du dich doch damit aus, telegrafisch Geld zu überweisen.«
Der Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus und ich merkte, dass ich mir auf die Zunge gebissen hatte.
»Sag mir Bescheid, wenn es erledigt ist«, sagte Diana.
Dann ließ sie ihr Telefon zuschnappen, stand aber nicht auf. Sie saß einfach nur da und ihre Schultern hoben und senkten sich sanft in der Dunkelheit. Meine Waden brannten, weil ich immer noch in der Hocke saß. Lange würde ich es nicht mehr aushalten. Ich wollte aufstehen, aber wenn sie sich jetzt umdrehte und mich sähe, wüsste sie, dass ich das ganze Gespräch mitbekommen hatte. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie genau das vermeiden wollte.
Mein Verstand zog an den losen Fäden ihres Gesprächs, aber sie waren zu kurz, zu glatt, um sie fassen zu können. Wieso brauchte sie Geld? Was war laut meines Geigenlehrers Juri? Und mit wem hatte sie überhaupt gesprochen?
Meine Beine hatten Feuer gefangen. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, nicht umzufallen.
Endlich erhob sie sich. Ihre sonst perfekte Haltung war zu etwas weniger Elegantem verblüht. Sie sah schlaff aus, als sie wieder über den Flur ging, zurück zum schnarchenden Clark.
Ich stand auf und hielt mich am Türrahmen fest. Ein Schwindelanfall überrollte mich. Ich schloss wieder die Augen und versuchte, mir Amazing Grace zurück ins Gedächtnis zu rufen, doch die Melodie war weg.
Kapitel 4
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, überkam mich der überwältigende Drang zu beten. Ich
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