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Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Titel: Virtuosity - Liebe um jeden Preis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Martinez
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vor seiner Tür an und trat zweimal dagegen.
    Einmal, das war schon Jahre her, hatte er die Tür aufgerissen und mich dabei erwischt, wie ich gerade mit den Handknöcheln klopfen wollte. »Niemals!«, hatte er geschrien und meine Faust mit seiner von blauen Adern durchzogenen Hand festgehalten. »Du bist Geigerin! Benutz die Füße!« Dann hatte er es mir vorgemacht und gegen die bereits geöffnete Tür getreten. Das Ergebnis war ein kreisrundes Loch in der Wand dahinter gewesen.
    Das gedämpfte Geräusch des Fernsehers blieb bestehen. Er musste mich einfach gehört haben. Ich wartete einen Augenblick, dann trat ich noch mal gegen die Tür. Nichts. Weinte gerade eine Frau? Was sah er sich bloß wieder für einen Schrott an? Endlich wurde der Fernseher ausgestellt und das Schlurfen seiner Pantoffeln näherte sich auf der anderen Seite der Tür, gefolgt vom Klicken des Schlosses.
    Die Tür wurde aufgestoßen und er schlurfte bereits zu seinem Liegesessel und den halb aufgegessenen Käsepiroggen zurück, während er mir über die Schulter hinweg befahl: »Schließ ab!«
    »Rosenzeremonie«, sagte er nur, als er schon wieder auf seinem Liegesessel saß, sich nach vorn beugte und gespannt auf den Bildschirm des Fernsehers starrte, wo ein Mann im Smoking eingefroren war. Er drückte auf die Starttaste der Fernbedienung. Die Kamera schwenkte auf eine blonde Frau mit Plastikbusen, der Wimperntusche über die Wangen lief. Juri gab keinen Kommentar ab, doch er nickte mit dem Kopf, als wolle er damit bestätigen, dass die Gerechtigkeit gesiegt hatte.
    Ich durchquerte das Apartment, vorbei an Juris Liegesessel und der fettigen Studioküche, in der sich dreckiges Geschirr stapelte, bis zur geschlossenen Tür seines Musikstudios. Diese Tür trennte zwei Welten. Hinter ihr war die Luft kühler. Schäbigkeit wich altmodischer Eleganz, Durcheinander wich Klarheit. Ich schloss die Tür hinter mir und sah mich um. Alles war am richtigen Platz. Das Notenpult aus Ebenholz nahm die Mitte des Raumes für sich ein. Sein reich verzierter Rücken war von Klemmbügeln durchkreuzt, die wie Äste wirkten.
    An allen vier Wänden reichten dunkle Holzregale bis an die Decke, die mit Tausenden von Partituren und Millionen von Noten vollgestopft waren. Einmal, als ich noch jünger war, hatte ich versucht auszurechnen, wie viele Noten sich wohl auf den Regalen befanden, nachdem Heidi mich mit ein paar Rechenaufgaben dazu inspiriert hatte. Ich hatte mit der durchschnittlichen Anzahl von Noten auf einer Zeile begonnen, mal der Anzahl von Zeilen pro Seite, mal der Anzahl von Seiten pro Regal. An diesem Punkt war es zu kompliziert geworden. Und dann hatte ich mich gefragt, wie viele Noten in diesem Zimmer wohl gespielt worden waren, beziehungsweise wie viele Noten ich selbst hier wohl schon gespielt hatte. Unmöglich zu sagen.
    Ich nahm die Geige aus dem Kasten, stimmte sie, übte ein paar Tonleitern, auf die Gefahr hin, dass Juri mir zuhörte, und spielte dann mit dem Rücken zur Tür die Einleitung der Teufelstriller­sonate von Tartini. Sie war das erste Stück meines Programms für das Halbfinale, die erste Musik, die die Jurymitglieder zu hören bekämen. Sie klang beständig und knackig. Jede einzelne Note biss die Saite zu Anfang gerade genug und wurde dann, mit dem richtigenTempo und der richtigen Vibrato-Weite, brillant und sonnig. Diese Details waren ungemein wichtig, konnten aber auch dazu führen, dass die Musik erdrückt wurde.
    »Heute kein Tartini.«
    Ich zuckte zusammen und ließ beinahe meinen Bogen fallen.
    Juri schlurfte an mir vorbei und ließ sich stöhnend in einen Sessel aus Samt fallen. Seine von Arthritis gezeichneten Finger wählten eine bernsteinfarbene Pfeife von einem Ständer auf seinem Schreibtisch aus. Er rieb den glänzenden Pfeifenkopf in seiner linken Handfläche. »Warum so schreckhaft? Hast du wieder gestohlen?« Er öffnete die verzierte Schachtel neben dem Pfeifenständer und suchte darin nach Tabak.
    Als ich dreizehn war, hatte er mich einmal dabei erwischt, wie ich mir etwas von seinem Kolophonium hatte borgen wollen. Ich hatte meins zu Hause liegen lassen und nicht genügend auf meinem Bogen. Vier Jahre später konnte man mir anscheinend immer noch nicht über den Weg trauen.
    »Nicht schreckhaft. Nur konzentriert.«
    Juri räusperte sich ungehalten und begann, den Tabak mit seinem knöchrigen Daumen in die Pfeife zu stopfen. »Kein Tartini heute«, wiederholte er. »Zeitverschwendung. Du kommst in

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