Virtuosity - Liebe um jeden Preis
nicht für Diana. Ich würde für mich selbst gewinnen.
Trotz abgrundtiefer Erschöpfung gelang es mir einfach nicht einzuschlafen. Es schien furchtbar unfair. Aber Schlaflosigkeit, oder zumindest meine Schlaflosigkeit, schien sich nichts aus Fairness zu machen.
Wie erschlagen kroch ich an diesem Abend mit schmerzendem Rücken und verspannten Schultern ins Bett, doch die Musik in meinem Kopf ließ sich einfach nicht abstellen.
Es gab nur eine Möglichkeit, wie ich sie ruhigstellen konnte.
Ich schlich über den Flur ins Studio, wo meine Violine auf mich wartete. Ihr orangefarbenes Holz glänzte wie eine exotische Blumeim Licht des Mondes. Ich nahm sie hoch und spielte die ersten Takte von Claire de Lune . Mondschein. Während ich spielte, ging ich zum Fenster hinüber und sah zum Mond auf. Es schien beinahe unfassbar, dass Claude Debussy vor über hundert Jahren in Frankreich in denselben Nachthimmel geblickt und diese Melodie gehört hatte, die von derselben glühenden Perle in demselben schwarzen Meer inspiriert worden war.
Unmöglich, aber wunderschön wie ein Märchen.
Ich hörte auf nachzudenken und ließ die Noten einfach singen. Die Melodie hatte etwas Pures, frei von jeglicher Komplikation, mit der ich die Musik bei Tag so oft überfrachtete.
Derselbe Mond hatte Debussy Claire de Lune geschenkt, vielleicht würde er auch mir etwas geben.
Kapitel 16
Der Guarneri stand kurz bevor.
In dieser letzten Woche vor dem Wettbewerb versuchte ich, alle erdenklichen Fehlerquellen auszuschalten. Denn alles hing von einer einzigen, unmöglich zu beantwortenden Frage ab: Welcher Fehler würde mir am ehesten unterlaufen? Bei welcher Passage würde ich mir im Nachhinein wünschen, dass ich sie nur ein paar Minuten mehr geübt hätte? Ich wusste es nicht. Vielleicht die Fingeroktaven? Also übte ich sie bis zum Umfallen. Oder was wäre, wenn ich am Ende der Kadenz den brutalen Lagenwechsel vermasselte? Zwar hatte ich sie mindestens die letzten Dutzend Male perfekt gespielt, aber das wäre kein Trost, falls ich es beim Wettbewerb nicht hinbekäme. Und mein Sieg konnte wirklich von einer so furchtbar einfachen Sache abhängen: nur ein verpasster Wechsel. Also wiederholte ich jede Lagenwechselübung, die ich je gelernt hatte, mindestens tausend Mal, für den Fall der Fälle.
Mein Tagesablauf war ziemlich traurig: Ich übte, aß und googelte Krankheiten im Internet. Insgeheim hoffte ich immer noch auf einen Krankenhausaufenthalt, damit ich den Wettbewerb verpassen würde. Ich bemühte mich, Diana aus dem Weg zu gehen. Ihr Eiskönigin-Gehabe war gerade genug dahingeschmolzen, um ihre Hysterie durchschimmern zu lassen. Ich konnte sie einfach nicht um mich haben. Denn ihr Schwanken zwischen Panik und Beschäftigungstherapie verdeutlichte mir bloß, wie sehr sie an mir zweifelte. Also verbrachte ich die meiste Zeit in meinem Zimmer. Sie ließ mich gewähren. Sie hatte wohl eine wahnsinnige Angst davor, dass meine ach-so-zarte geistige Verfassung aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte. Sie bestrafte mich nicht einmal dafür, dass ich sie angelogen hatte.
Jeremy rief nicht an und schickte mir auch keine E-Mails mehr. Aber das war gut so. Die Demütigung loderte in mir auf, sobald ich an ihn dachte. Aber auch, wenn ich nicht an ihn dachte, war sie da. Sie war mein Zündstoff, das Gefühl, das mich antrieb, mit dem ich mein inneres Feuer entfachen konnte.
Die Wut auf Diana hatte mir dabei geholfen, auch ohne Inderal meine Mitte zu finden. Die Demütigung, die Jeremy mir zugefügt hatte, war vielleicht meine einzige Chance, mich auf etwas zu konzentrieren, das außerhalb meiner eigenen Angst lag. Ich brauchte dieses Gefühl und konnte Jeremy deshalb auch nicht vergeben. Deshalb durfte ich nicht daran zweifeln, dass Jeremy mich benutzt hatte, sonst hätte ich nichts mehr gehabt, um mich daran festzuhalten, wenn mich die Panik überkam. Und dann hätte ich vielleicht nachgegeben und eine Tablette geschluckt.
Ich musterte den Kleiderhaufen auf meinem Bett. Diana hatte bereits ein Kleid für mich ausgesucht, aber ich probierte trotzdem alles in meinem Kleiderschrank an. Die Kleider, die ich auf keinen Fall anziehen würde, lagen auf dem Boden, die, die ich in Erwägung zog, auf dem Bett. Das Kleid, das sie ausgewählt hatte, war okay – fließender gelber Stoff, U-Ausschnitt, angeschnittene Ärmel und ein Rockteil bis zum Knie. Sie hatte sich schon vor Wochen darauf festgelegt, als wir noch miteinander geredet hatten. »Es
Weitere Kostenlose Bücher