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Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Virtuosity - Liebe um jeden Preis

Titel: Virtuosity - Liebe um jeden Preis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Martinez
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einer Papiertüte aussah. Ich war zu weit weg, um es mit Sicherheit sagen zu können.
    Ich lief zurück nach unten und übersprang diesmal drei Stufen auf einmal, aber Diana tat mir nicht den Gefallen, noch mal zu rufen, dass ich langsam sein sollte, nur, damit ich sie ignorieren könnte.
    »Was ist das denn?«, erkundigte ich mich, als ich die braune Papiertüte vom Beifahrersitz nahm und einstieg.
    Clark lächelte nur und legte den Gang ein.
    Ich sah hinein. Es war ein kleines Stückchen Mitgefühl, ein geheimes Geschenk unter Geiseln – ein Donut mit Zuckerguss.
    Mir kamen die Tränen. Es war leicht, die Gefühle in Schach zu halten, solange ich mit der ganzen Welt auf Kriegsfuß stand. Juri, Jeremy, Diana – ihretwegen würde ich nicht weinen. Aber Clark … Ich hatte wirklich überhaupt keine Lust, jetzt zum Geigenunterricht zu gehen und der Donut kam mir wie eine Henkersmahlzeit vor. »Du bist der Beste«, freute ich mich, zog das Wachspapier ab, an dem der Donut festklebte, und nahm einen Bissen.
    »Klar doch.«
    Ich hatte allen Grund, mich vor dieser Stunde zu fürchten. Die Dinge mit Juri lagen ziemlich verquer.
    Zum einen war da die Art, wie meine letzte Unterrichtsstunde geendet hatte – er hatte mich quasi rausgeschmissen. Und dann hatte ich letzten Samstag beim Konzert alles, was er mir das ganze letzte Jahr über die Musik beizubringen versucht hatte, entweder ignoriert oder auf den Kopf gestellt. Wahrscheinlich war er deswegen stinksauer. Dabei fiel es gar nicht ins Gewicht, dass es zum ersten Mal seit Langem eine wirklich aufregende Darbietung gewesen war. Tatsächlich machte es ihn wahrscheinlich noch wütender, weil es so aussah, als hätte ich alles, was er mir beigebracht hatte, abgelehnt und es ihm auch noch unter die Nase gerieben.
    Über die andere Möglichkeit, die noch schlimmer als seine Wut wäre, wollte ich lieber gar nicht erst nachdenken. Er konnte gänzlich unbeteiligt tun. Vielleicht war es ihm vollkommen gleichgültig.
    Ich trat meine kulinarische Reise der unterschiedlichen Essensgerüche in Juris Wohnhaus an und wünschte mir, ich hätte etwas, womit ich den Zuckerguss von meinen Händen waschen könnte.
    Die Tür zu Juris Apartment stand einen Spaltbreit offen, nur ein paar Zentimeter. Das hatte ich noch nie erlebt.
    »Hallo?«, rief ich, betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter mir.
    Die Tür zum Studio war ebenfalls geöffnet. Juri saß mit angezündeter Pfeife im Mund am Schreibtisch.
    »Darf ich mir eben die Hände waschen?«
    Ich wartete nicht einmal auf die Antwort, sondern schlängelte mich durch die zusammengewürfelten Möbel und das übliche Durcheinander zum Spülstein in der Küchenzeile, wo ich erst einen kleinen Berg mit dreckigen Töpfen beiseiteräumen musste, um an den Wasserhahn zu kommen. Das Wasser brauchte immer eine Ewigkeit, bis es warm wurde, und ich beschloss, nicht darauf zu warten.
    »Wussten Sie, dass die Wohnungstür offen stand?«, erkundigte ich mich bei Juri, als ich zurück in das Studio kam. Ich legte meinen Geigenkasten auf den Sessel.
    Juri blinzelte. »Offen?« Er sah vollkommen perplex aus. »Muss ich vergessen haben.«
    Meistens schien Juri über jegliches Menschenalter erhaben zu sein. Er war so alt, dass er zeitlos wirkte. Aber manchmal tat er etwas, das mir seine Gebrechlichkeit vor Augen führte. Er war jetzt zweiundneunzig. Das war fast ein ganzes Jahrhundert. Er hatte noch nie vergessen, sein geliebtes Türschloss zu verriegeln. Was, wenn er langsam senil wurde?
    »Was glotzt du so?«, beschwerte er sich und nahm die Pfeife von seinen mit Adern durchzogenen blauen Lippen.
    Nein. Er war immer noch ganz der Alte.
    »Tu ich doch gar nicht.« Ich wollte gerade den Geigenkasten öffnen, als er eine Hand hob.
    »Heute nicht.«
    Ich konzentrierte mich auf das Fenster über seinem Kopf und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Er wollte noch nicht einmal, dass ich meine Violine hervorholte – es würde noch schreck­licher werden, als ich es mir vorgestellt hatte.
    »Setz dich«, befahl er.
    Ich hob meinen Kasten vom Sessel und setzte mich hin. Es war ein merkwürdiges Gefühl. In all den Jahren hatte ich bisher nur ein einziges Mal darin gesessen. Ich hatte das Pfeiffersche Drüsenfiebergehabt und mir war mitten in der Stunde schwindelig geworden. Und vielleicht noch ein Mal … nein, es gab kein anderes Mal.
    Ich holte zitternd Luft. Nur eine Inderal – ich hätte nur eine einzige Tablette für diese Stunde nehmen sollen.

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